Extra

Duisburger Klassik

Duisburger Filmwoche 47
12.11.2023

Podium: Elisabetta Pilia, Antje Ehmann, Volker Pantenburg
Moderation: Martha Leidorf, Lino Rupprecht, Nina Cosic
Protokoll: Eva Kirsch

Zwei ganze Tage haben die Jugendlichen gesichtet, diskutiert, ausgewählt. Am Ende fiel die Entscheidung auf zwei Filme, die Blickachsen und Architekturen vorstellen; die sich fragen, wie sich Menschen zu Gebäuden verhalten, die ihnen Vorgaben machen wollen. IL PALAZZO (2006) von Katharina Copony zeigt Corviale, einen monumentalen Sozialbau in der Peripherie Roms. 8000 Menschen wohnen dort, beleben die endlosen Gänge einer Wohnbau-Utopie mit eigenen Perspektiven. In DIE SCHÖPFER DER EINKAUFSWELTEN (2001) zeigt Harun Farocki die Shoppingmall als ausgeklügeltes Blickregime, das zum Verlaufen im Konsum einlädt und Toast auf Augenhöhe feilbietet. Über die Aktualität und ihre Lust an den Filmen sprechen Martha Leidorf, Samira Yartaoui, Nina Cosic, Lino Rupprecht und Amelie Kluskens mit ihren Gästen beim Filmgespräch im Kino.

Protokoll

Der Festivalsonntag gehört der letzten Veranstaltung der Duisburger Filmwoche, die dieses Jahr zugleich die erste Veranstaltung eines neuen Formats ist. Die „Duisburger Klassik“, angekündigt als gemeinsam mit doxs! verantwortetes Format, das jungen Menschen aus Duisburg die Gelegenheit bieten soll, entlang des Festivalmottos Filme aus dem Festivalarchiv zu zeigen und sie auf ihre Aktualität hin zu überprüfen.

Die Wahl der Mitglieder der doxs!-Jugendjury fiel auf „Il Palazzo“ von Katharina Copony und „Die Schöpfer der Einkaufswelten“ von Harun Farocki. Moderiert wird die Veranstaltung von Martha Leidorf, Lino Rupprecht und Nina Cosic  –  drei Mitgliedern der doxs!-Jugendjury, die die Filme mit ihren Kolleginnen Samira Yartaoui und Amelie Kluskensauch gemeinsam ausgewählt haben. Zunächst wird „Il Palazzo“ gezeigt, es folgt ein Gespräch mit der Regieassistentin und Produktionsberaterin Elisabetta Pilia. Danach läuft „Die Schöpfer der Einkaufswelten“ und zu Gast sind der Mitgründer des Harun Farocki Instituts Volker Pantenburg sowie Antje Ehmann, die mit Farocki zusammengearbeitet hat und mit ihm verheiratet war.

Der Versuch eines Schlaglichts auf eine fast vierstündige Veranstaltung mit vielen detailreichen Redebeiträgen.

Ein monumentaler Sozialbau in der Peripherie Roms. Idyllisch in die Natur eingebettet, ist der Corviale als soziales Wohnbauprojekt gescheitert, das Gebäude wurde nie fertiggestellt. Die Mitglieder der Jugendjury nehmen den Sozialbau in den Erzählungen der Bewohner:innen als menschenfeindlich wahr, gleichzeitig steht im Gespräch die Frage im Raum, inwiefern die Regisseurin das Gebäude schöner darstelle, als es sei. Ob die Jugendlichen den Balanceakt des Films zwischen Härte und Schönheit als romantisierend wahrnehmen, möchte Alexander Scholz wissen. Lino Rupprecht erwidert, er fände es faszinierend, wie der Film sich in dem unschönen Rahmen des Gebäudes um Schönheit bemühe.

Alle sind sich über den Aktualitätsbezug des Films einig: Mietpreiserhöhungen (Martha Leidorf), Gentrifizierung und Innenstadtverschönerungen (Publikum), Menschen, die aus der Stadt wegziehen müssen, Konzepte für soziales Wohnen, die bis heute nicht aufgehen, brennende Autos in Vorstädten (Alexander Scholz). Die Thematiken, die „Il Palazzo“ verhandelt, haben nichts an Aktualität eingebüßt – im Gegenteil.

Auf die Frage nach der Verbindung des Films zum diesjährigen Festivalmotto „Im Geradeaus verlaufen“ finden sich zwei Antworten. Einerseits gäbe es ein sich Verlaufen der Planer:innen des Corviale in ihrer Idee eines Sozialbaus, da dieser nie wie geplant fertiggestellt wurde. Andererseits entstehe insbesondere durch die Bildgestaltung das Gefühl, man verlaufe sich in der monumentalen Architektur des Gebäudes.

Aus dem Publikum fragt eine Person, ob die junge Auswahlkommission nun nach dem Film anders auf ihr Viertel schaue. Die Jugendlichen erzählen daraufhin von Gentrifizierung in Duisburg, Nachbar:innen, die wegziehen müssen und wie der Film ihre Wahrnehmung geschärft habe für die Frage nach Architektur für Menschen im 21. Jahrhundert.

Besonders hervorgehoben wird in der Diskussion des Films die Tanzszene als gemeinschaftlicher Moment, den sich die Bewohner:innen vom Corviale selbst geschaffen haben. Der in der Szene distanziert anmutende Kamerablick durch den Türrahmen ist der Jugendjury aufgefallen, dennoch habe ihnen die Szene sehr gut gefallen. Auf die Frage nach dem Protagonisten des Films antwortet Elisabetta Pilia abschließend: In ihren Augen sei die Hauptfigur eindeutig das Gebäude, da sich der Film nur in Bezug auf den Corviale für die darin vorkommenden Menschen interessiere.

Wenn es in „Die Schöpfer der Einkaufswelten“ um das „Miami Vice Ambiente“ der sich in Planung befindlichen Shoppingmall geht oder ein Architekt die Regalwand eines Buchladens zum „Heiligtum“ machen möchte, sind wir mittendrin im System Konsumsphäre. Harun Farocki beobachtet Menschen – vorwiegend ältere Männer – bei der Planung von Einkaufszentren, in Marketingsitzungen und schlussendlich beim schier unmöglich erscheinenden Vorhaben, an einer Regalwand möglichst gewinnbringend das Toastbrot zu platzieren.

Anknüpfend an „Il Palazzo“ stellt Volker Pantenburg fest, in beiden Filmen gehe es um Gebäude, die eigentlich zu groß sind, um gut filmisch festgehalten zu werden: die Shoppingmall und der Corviale. Martha Leidorf sieht die Verbindung der Filme in der Nebensächlichkeit der betroffenen Menschen: Copony interessiere sich für die Bewohner:innen nur in ihrem Verhältnis zum Sozialbau und auch in Farockis Film seien die Kund:innen praktisch unsichtbar, obwohl permanent über sie gesprochen werde. Antje Ehmann ergänzt, die Konsument:innen seien „nur als Konstrukt vorhanden“. Aber inwieweit sind wir konstruier- und konditionierbar? Sie interessiere sich dafür, wo die Jugendjury einen Aktualitätsbezug des Films sehe. Die Jugendlichen erläutern, sie seien vom Film mitgenommen, fühlten sich in ihrem Konsumverhalten ertappt. Gern würden sie sich davon distanzieren, merken aber, dass es sie betrifft. Der Film „als Dokument über die Einfachheit der eigenen Manipulierbarkeit“, so Lino Rupprecht. Auch wenn die Manipulation heute auf anderen Ebenen wie beispielsweise der Websitegestaltung oder der sich von selbst verlängernden Abomodelle stattfände.

In mehreren Exkursen über den Gesprächsverlauf verteilt erzählt Volker Pantenburg von Farockis Arbeitsweise. Seinem Interesse daran, wie manuelle von maschinellen Prozessen abgelöst würden und auch das Sehen eine Automatisierung erfahre. In „Die Schöpfer der Einkaufswelten“ sei die dargestellte Arbeit immer auch „Arbeit am Bild“, beispielsweise in den Zeichnungen der Architekten oder den Computergrafiken. Farocki verstünde Dokumentarfilm nicht als Praxis des „in Back Alleys Schauen“, er habe ein Interesse an der „Selbstdarstellung der Gesellschaft“. Trotz seines beobachtenden Gestus‘ würde dabei in der Montage immer die Haltung des Filmemachers klar. Besonders spannend fände Farocki Beratungs- und Planungsgespräche, da ihnen das Theater im Brechtschen Sinne schon inhärent sei.

Ausgehend von Antje Ehmanns Interpretation kreist das Gespräch eine Weile um eine Szene, in der ein Regal mit Toast umgeräumt werden soll. Ehmann konstatiert, in der Situation werde die Absurdität von Marketingüberlegungen deutlich. Sie liest darin die Hoffnung, dass die einkaufende Person am Ende doch schlauer bleibe als die Verkaufsstrategie. „Was denkt ihr?“, möchte sie von der Jugendjury wissen. Die junge Auswahlkommission beschreibt die Szene als witzig und absurd. Ein Vergleich zu „The Office“ wird gezogen. Die Menschen vor der Kamera würden sich selbst lächerlich machen und wie Schauspieler anmuten. Antje Ehmann wirft ein, dass sie die Protagonist:innen nicht als ausgestellt beschreiben würde. In ihren Augen zeige Farocki im Grunde „ernsthaft arbeitende Menschen“. Auch Volker Pantenburg spürt die Absurdität der Szene. Er betont, die zuvor sorgsam aufgebauten sprachlichen Metaphern der Berater:innen schrumpfen im Toastbrot zusammen.

Auch in „Die Schöpfer der Einkaufswelten“ kann laut Samina Gul das Motto „Im Geradeaus verlaufen“ gesehen werden. Als Verlaufen auf der Suche nach Eiern im Supermarkt beispielsweise. Aber auch der Film selbst „verlaufe sich“: Nach der konspirativen Besprechung am Anfang, über die abstrakte Planung im Architekturbüro bis hin zur völligen Absurdität der Toastbrotanordnung, die am Ende scheitert, weil die Beteiligten sich in Details verlieren. So viel Planung und Abstimmung und am Ende passiere doch nichts, so Alexander Scholz. Treffend ergänzt Nina Cosic: „sich verlieren in der Idee, dass man eine hat“.

Die Veranstaltung findet ihr Ende in einer erneuten Zusammenfassung der Verbindungslinien zwischen „Il Palazzo“ und „Die Schöpfer der Einkaufswelten“, die Martha Leidorf vornimmt: die Gebäude in beiden Filmen seien für Menschen gebaut, die Betroffenen würden jedoch nicht mit einbezogen, es werde sich über sie hinweggesetzt.

Ungeachtet der Thematik des Verlaufens und nicht Ankommens findet so die erste Duisburger Klassik und damit auch die Duisburger Filmwoche ihr Ende und das Publikum verlässt mit einem frischen Blick auf zwei interessante Archivfunde den Kinosaal.