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Wie weiter? (II): Captivating audiences – Why I make docuseries

Duisburger Filmwoche 44
02.11.2020

Podium: Justin Webster
Moderation: Torsten Zarges
Protokoll: Robin Schrade

Seine Einblicke sind einzigartig – ob hinter den Kulissen des Top-Fußballs (Six Dreams) oder politischer Verschwörung auf höchster Ebene (Nisman): Justin Webster zählt zu den europäischen Pionieren der dokumentarischen Serie. Wie er Journalismus und Storytelling zusammenführt, welchen Umgang er mit seinen Protagonisten pflegt und wie sich sein Kundenkreis verändert, erläutert der preisgekrönte Autor, Regisseur und Produzent in seiner Keynote-Session.

Protokoll

Der preisgekrönte Brite Justin Webster gründete 1996 in seiner Wahlheimat Spanien die Produktionsgesellschaft JWP und feierte 2004 mit einem Dokumentarfilm über den FC Barcelona („FC Barcelona Confidential“) seinen ersten großen internationalen Erfolg als Regisseur. Seit ein paar Jahren hat er sich auf die Produktion von spannungsgeladenen dokumentarischen Serien spezialisiert, die er selbst als „narrative-non-fiction-series“ bezeichnet, da ihm der Begriff des Dokumentarischen zu unspezifisch erscheint.

Zarges möchte im ersten Teil des Gesprächs herausfinden, wie Webster zur seriellen Form gekommen ist und inwiefern sie sein künstlerisches Schaffen verändert hat. Dieser gibt bereitwillig Auskunft: Er nennt die 2015 gestartete amerikanische Doku-Serie The Jinx (von Andrew Jarecki) und die damit verbundenen euphorischen Reaktionen der Öffentlichkeit als wichtige Motivation, sich mehr auf serielle Formate zu fokussieren. Diese stünden jedoch nicht etwa im Gegensatz zu seinem filmischen Schaffen, sondern erweiterten dieses lediglich. Webster vergleicht seine Filme mit Kurzgeschichten und seine Serien mit Romanen. Das serielle Erzählen erlaube es ihm, die Komplexität von Situationen, menschlichen Erfahrungen und gesellschaftlichen Verhältnissen umfassender wiederzugeben. Sein grundsätzliches Anliegen sei jedoch dasselbe geblieben. Es gehe ihm darum, Neues zu entdecken und der „Wahrheit“ von Ereignissen investigativ auf die Schliche zu kommen.

Auf der Website von JWP wird die Themenvielfalt seiner Produktionen anschaulich: Eine „geopolitische Kriminalgeschichte“, die „Pionierarbeit eines Transplantationsarztes“, das „Porträt eines großen Künstlers“, der „Aufstieg und Fall einer Mafia-Figur“ oder „die Enthüllungen in Folge eines Mordprozesses“. Zarges zitiert diese Sujets und fragt, welche Vorlieben und Interessen sich dahinter verbergen. Webster erklärt, dass die Themen selbst gar nicht so relevant für ihn seien. Er betrachte sie vielmehr als eine Art Vehikel, um sein filmisches Anliegen umzusetzen. Wichtiger sei für ihn z. B. die Frage, welchen Rahmen es braucht, um bestimmte Geschichten auf eine spezifische Weise erzählen zu können. Im Bereich Sport – und hier insbesondere im Fußball – sei es z. B. möglich, aktuelle Ereignisse, unvorhersehbare Entwicklungen und plötzliche Emotionen einzufangen. Es gehe ihm dabei also nicht primär um das Thema Sport oder Fußball an sich.  

Ausgehend von diesen Überlegungen überrascht Webster mit der Aussage, die tatsächliche Themenwahl würde am Ende nur rund fünf Prozent seines dokumentarischen Interesses ausmachen. Zarges hakt folgerichtig nach. Was steckt hinter den 95%? Webster nennt die künstlerische Form, den erzählerischen Standpunkt und die „Bedeutung“ eines dokumentarischen bzw. nicht-fiktionalen Werkes als die drei zentralen Ausgangspunkte. Die Themenwahl sei diesen Interessen untergeordnet. Ihn als Regisseur trieben vor allem zwei zentrale Fragen an, und zwar: „Was ist wahr?“ und „Wie leben wir?“. Die Fragen nach Gerechtigkeit, nach der menschlichen Natur und nach dem Unbekannten und Unerwarteten seien für ihn besonders dringlich.

Das erste ausführlich vorgestellte Projekt ist die True-Crime-Miniserie Death in Léon (2016). Der kaltblütige Mord an einer spanischen Politikerin in der Kleinstadt Léon im Jahr 2014 bildet den Ausgangspunkt des Geschehens. Obwohl die Mörderin die Tat vor Gericht früh gestanden hat, blieb der (in Presse und Öffentlichkeit viel diskutierte) Fall rätselhaft. Angedeutete politische Hintergründe, die womöglich auf Verschwörungen und Korruptionen verweisen, konnten nie aufgeklärt werden. Der zur Einstimmung gezeigte Trailer beginnt mit Archivbildern, findet seinen frühen Höhepunkt in einem Reenactment der Mordszene und zeigt im Anschluss daran – untermalt von ruhiger, langsam anschwellender Musik – dramatische Szenen der Ermittlungen. Im Wechsel dazu kommentieren verschiedene Protagonist*innen die Ereignisse.  

Während der anschließenden Diskussion erklärt Webster, dass er von Beginn an fasziniert war und hinter dem Fall eine komplexe „Wahrheit“ vermutet habe. Er habe sich zwei Jahre intensiv mit dem Fall beschäftigt und viele vertrauensvolle Kontakte zu den involvierten Personen aufgebaut. Dadurch habe er die Verstrickungen hinter dem Mord zwar nicht letztgültig, aber doch viel umfassender aufklären können als alle übrigen Ermittlungen. 

Auf die Zuschauerfrage hin, wie er denn vorgehe, um die verschiedenen Hinweise, Archivmaterialien und Interviews zu einer packenden, seriellen Erzählung zu verschmelzen, antwortet Webster, dass die Nachforschungen, das Schreiben, die Dreharbeiten und der Schnitt für ihn und sein Team eng verzahnte und parallel ablaufende Prozesse seien. Es sei ein ständiger Aushandlungsprozess, der sich langsam zu einer seriellen Erzählung füge. Zu Beginn dieses Prozesses sei es vor allem wichtig, ein „Gespür“ für die Situation und die Sachlage zu entwickeln und eine gute und vertrauensvolle Beziehung zu den einzelnen Protagonist*innen aufzubauen. Auf mögliche Konflikte, die sich zwischen seinen investigativen Ansprüchen und dem Wunsch, eine möglichst packende Geschichte zu erzählen, ergeben könnten, geht Webster leider nicht ein.

Es werden auch Fragen zu den Produktionsbedingungen gestellt. Webster erklärt, dass er zunächst Unterstützung von dem spanischen Pay-TV-Sender Movistar und später von HBO bekommen habe – dies sei jedoch kein leichtes Unterfangen gewesen. Denn die Risikobereitschaft von einschlägigen Produktionsfirmen werde immer geringer. Auf die Frage hin, welche Kompromisse er selbst zugunsten besserer Fördermöglichkeiten eingehe und was er anderen Dokumentarfilmer*innen empfehlen würde, antwortet Webster diplomatisch. Es handele sich bei einer filmischen Produktion immer um ein ständiges Abwägen zwischen den eigenen Vorstellungen und der Förderwürdigkeit.

Als nächstes wird ein Trailer von Websters aktueller Crime-Serie Nisman (2019) gezeigt. Diese widmet sich dem mysteriösen Tod des argentinischen Staatsanwaltes Alberto Nisman, der Ermittlungen über ein 1994 erfolgtes antisemitisches Attentat in Buenos Aires anstellte. Der dramatische Trailer – zum Großteil bestehend aus TV-Beiträgen, Ermittlungsaufnahmen und Zeugenaussagen – deutet eine geheimdienstliche Verschwörung an. Zarges spricht begeistert von einem ganz neuen Level an serieller Spannung. Webster erläutert sein persönliches Involvement in die Thematik: Er wollte sich schon sehr lange dem Stoff widmen. Über vier Jahre habe es gedauert, ihn tatsächlich filmisch zu realisieren. Die Brisanz des Themas sei so offenkundig gewesen, dass sein Produzent Sorgen hatte, sie würden sich damit in Lebensgefahr bringen. Doch Webster wollte sich nicht einschüchtern lassen, insbesondere da er glaubte, mit seiner investigativen Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung und Verarbeitung des Geschehens leisten zu können. Und dies habe sich rückblickend auch bestätigt: Insbesondere in Argentinien sei die Serie Anfang 2020 ein regelrechtes kulturpolitisches Event gewesen, das sogar von präsidialer Seite kommentiert wurde.

Die Frage, wie er mit der Gefahr vor Ort umgegangen sei, beantwortet Webster, indem er erklärt, dass es ein langwieriges und behutsames Unterfangen war, die richtigen Kontakte herzustellen, lokale Kooperationen zu etablieren und Vertrauen aufzubauen. Unter den Beteiligten habe es viel Wut, Hass und Angst gegeben. Doch viele Menschen hätten überzeugt werden können, sich dem Projekt anzuschließen. Von einer tatsächlichen Sabotage oder Gefährdung der Dreharbeiten kann Webster nicht berichten.

Besonders stolz ist er auf die verschiedenen Produktionspartner, die das Projekt begleitet haben. Sowohl Streaming-Dienste (u. a. Netflix) als auch öffentlich-rechtliche Sender (in Deutschland z. B. das ZDF) gehören zu den Koproduzenten. Es habe sich gewissermaßen um eine erfolgreiche Fusion „der alten und der neuen Welt“ gehandelt.

In den letzten Minuten des Gesprächs kommt Zarges noch auf Websters neustes Sport-Projekt zu sprechen: Six Dreams: Back to Win (2020). Es handelt sich um die zweite Staffel einer Fußballserie über die spanische Liga. Sechs Protagonisten aus verschiedenen Clubs werden durch die Saison begleitet. Webster erklärt lachend, dass es sich hierbei nun um eine „komplett andere Sache“ handele. Zudem spricht er augenzwinkernd die präventive Warnung aus, dass ihm der Trailer selbst ein wenig zu kommerziell geraten sei. In diesem werden dramatische Fußballszenen und figurenzentrierte Helden-Inszenierungen von pathetischer Musik untermalt.

Sehr knapp kann Webster noch umreißen, dass es sich hier – wie bei den meisten seiner Projekte – um eine Charakter-orientierte Herangehensweise handelt. Zu Beginn der Dreharbeiten war noch überhaupt nicht absehbar, wohin die „sechs Träume“ führen würden. Bereits zuvor hatte Webster erklärt, dass auch der Sport nicht isoliert von der übrigen Gesellschaft stattfinde, sondern fest in diese integriert sei. Gerade deswegen ist für ihn die Beschäftigung damit so aufregend. Es gibt viel zu entdecken und es gilt, offen für Neues und Unerwartetes zu bleiben. Eine Haltung, die diesmal auf besondere Weise gefordert war. Denn das wohl größte Ereignis der Serie ist nicht der Fußball selbst, sondern die Corona-Pandemie, die zwischenzeitlich für einen Spielstopp und später für leere Ränge im Stadion sorgte. Die Serie (in Deutschland noch nicht abrufbar) entstand übrigens als Produktion von Amazon-Prime und in Kooperation mit der spanischen Fußballiga.

Aufgrund der fortgeschrittenen Zeit muss das Gespräch an dieser Stelle relativ abrupt enden. Was bleibt, ist der Einblick in das Schaffen eines Dokumentarfilmers, der zwischen einer packenden filmischen Erzählung, den lukrativsten Fördermöglichkeiten und seinen investigativ-aufklärerischen Ansprüchen immer den elegantesten Mittelweg sucht – äußerst erfolgreich.