Film

Wenn es blendet, öffne die Augen
von Ivette Löcker
AT 2014 | 75 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 38
05.11.2014

Diskussion
Podium: Ivette Löcker
Moderation: Till Brockmann
Protokoll: Alexander Scholz

Synopse

Ljoscha und Schanna. Zwei Heroinabhängige in Sankt Petersburg. Ein Portrait einer Beziehung zwischen Alltag und Abhängigkeit. Ihrer Sucht und derer Folgen bewusst, scherzen sie über Lebensmut und Verfall. Nebenan Ljoschas Mutter Maria. Zwischen den Zeilen ein wenig Punkrock. 

Protokoll

Zunächst ist nur eine Hausfassade zu sehen. Stimmen sprechen von Freiheit und davon, dass es Drogen früher nur in Amerika gab. Alsbald sehen wir Ljoscha, den Sozialarbeiter. Für eine NGO berät er Suchtkranke, verteilt Spritzen und Ratschläge. Auf einer Autofahrt spricht er darüber, dass er eine besondere Fähigkeit habe, zu den Menschen auf der Straße Kontakt aufzunehmen. Das Publikum glaubt, es mit einem Türöffner in die Welt der Heroinsüchtigen zu tun zu haben, deren Schicksal wohl im Mittelpunkt dieses Films stehen wird. Halbwegs überrascht ist man, wenn Ljoscha sich und seiner Freundin Schanna einen Schuss setzt und sich als Protagonist von Wenn es blendet, öffne die Augen entpuppt. Ivette Löcker macht mit dieser Eröffnung ihrer Dokumentation ihre eigene Erfahrung den Zuschauern zugänglich. Auch sie hatte Ljoscha bei ihrer Recherche erst als Streetworker kennengelernt, bis sich herausstellte, dass er selbst an der Spritze hängt. Leute wie Schanna und Ljoscha seien „Veteranen“ einer Generation von Drogenabhängigen, die buchstäblich nahezu ausgestorben ist: Als während der 90er-Jahre Heroin das postsowjetische Russland zu Spottpreisen überschwemmt, sind sie unbedarfte Teenager, die mit ihrer Zeit wenig anzufangen wissen. Ob die Narration von der Überforderung mit der neuen Freiheit und dem Nacheifern des westlichen Lebensstils als Gründe für den plötzlichen Anstieg der Abhängigenzahlen wirklich verfängt, bleibt unklar. Diese Argumentation geistert zwar durch den Film, wird aber nicht aufgearbeitet, sondern bleibt in ihrer Banalität für sich stehen. Schanna und Ljoscha werden als ungewöhnliches Paar in der ganzen Ausweglosigkeit ihrer Lage portraitiert, der sie zu allem Überfluss noch bewusst sind und sie sarkastisch kommentieren.

Diese Eigenschaften veranlassten Ivette Löcker dann auch, die beiden als Protagonisten auszuwählen. Zwei ganze Familiengeschichten verwarf sie im Schnitt, um dem kleinen Kosmos von Schanna und Ljoscha den ganzen Raum ihres Filmes zu gewähren. Schnell habe man sich sympathisch gefunden und Vertrauen ineinander gesetzt. Die Spannungsfelder dieses Vertrauens sind die Furcht der Regisseurin, die Protagonisten in ihrer Lage auszustellen, ihr Mitleid mit den ihnen und das Bewusstsein, von ihren Hauptfiguren selbst manipuliert zu werden. Werner Ružička findet, dieses ambivalente Geflecht von Emotionen sei in der „filmischen Herstellung von Distanz und Nähe“ nachvollziehbar. Tatsächlich changiert der Film teilweise zwischen nahezu voyeuristischen Einstellungen und standardisierten Gesprächssituationen. Deshalb macht auch Till Brockmann auf die klaustrophobische Stimmung des Filmes aufmerksam: Schanna verlasse die Wohnung ja gar nicht, nur Ljoscha habe Kontakt zur Außenwelt. Nachdem Brockmann sich versichert, dass dieser Umstand real und nicht allein filmisch hergestellt ist, fragt er sich, wieso diese Diskrepanz und der durch Ljoschas Arbeit entstehende (Sucht-)Rhythmus des Paares so wenig in dem Film vorkommt. Ivette Löcker stellt daraufhin die Selbstverständlichkeit dieses Alltagsrhythmuses heraus. Ljoscha übe seine Rolle mit einer Beiläufigkeit und Normalität aus, die sie erstaunt habe. Selbst die Szene, in der er Schanna eine Spritze setzt, zeige für sie die Vertrautheit der beiden mit diesen Tätigkeiten, mithin die Fügung in ihr Schicksal. Brockmann erkennt in dieser Szene über die Ebene der Abhängigkeit und der Pflege hinaus eine Wiederaufnahme des zuvor gezeigten Gesprächs über das Sexleben der beiden. Die Schilderung der körperlichen Unfähigkeit zum Liebesakt unter Drogen werde in der voyeuristischen Inszenierung der Injektion als metaphorischer Penetration dramaturgisch hervorragend wieder aufgenommen.

Die Reaktionen des Publikums auf eben diese vertrauten Szenen sind jedoch sehr verschieden. Die einen haben das „zauberhafte“ Gefühl, „ein liebevolles Portrait von Menschen, die einem nicht nahe sind“ gesehen zu haben. Werner Ružička sekundiert, dass der Film es schaffe, Verständnis für Menschen zu vermitteln, die man nicht verstehe. Eva Hohenberger ist anderer Meinung und vermisst ein nachvollziehbares Interesse hinter dem Gezeigten: Die Intention des Filmes bleibe gerade deshalb im Unklaren, weil politische und strukturelle Gründe für die Situation der Protagonisten zwar lapidar erwähnt, mit der tatsächlichen Lebensrealität der beiden aber nicht in Zusammenhang gebracht würden. Dass Schanna und Ljoscha als unter einer Käseglocke lebend vorgestellt werden, erschwere es den Zuschauern, ein Verhältnis zu ihrer Lebensweise aufzubauen. Hohenberger moniert deswegen an Wenn es blendet, öffne die Augen fundiertere Recherchearbeit; es sei der erste Film der Filmwoche, der sie „wirklich geärgert“ habe. Löcker entgegnet diesem Vorwurf, es sei gar nicht ihr Interesse gewesen, die politischen und sozialen Determinanten dieser persönlichen Krise aufzuarbeiten. Der Film handle eben von dieser realen Käseglocke, unter der die beiden Protagonisten tatsächlich lebten. Das tabuisierte Problem des Drogenmissbrauchs finde bei den Abhängigen zuhause statt. Da diese und ihre nicht ungewöhnliche Wohnsituation bei Ljoschas Mutter im Mittelpunkt des Filmes stünden, sei es auch zulässig, im Interesse der genauen Zeichnung der Protagonisten deren Desinteresse für die politischen Umstände zu teilen. Der Produzent des Filmes meldet sich zu Wort und ergänzt, der Wunsch nach Erklärungen sei dem Film fremd und würde ihn auch für die Duisburger Filmwoche disqualifizieren.

Zwei weitere dramaturgische Elemente, die kontrovers diskutiert werden, sind das Ende des Filmes und die Unterbrechungen der Handlung durch Ausschnitte aus einem Punkkonzert. Letztere hätten keinen direkten persönlichen Bezug zu Ljoscha und Schanna, gibt Löcker an. Die Ausschnitte fungierten vielmehr als auflockernde Elemente, die die Enge und die Ruhe der Verhältnisse kurz durchbrechen. Die Liedtexte seien derweil auf das Leben der Protagonisten beziehbar und die dreckige, punkige Umgebung Reminiszenz an eine glückliche Zeit, die es für Ljoscha und Schanna einmal gegeben haben mag, bevor das Heroin ihren Lebensrhythmus vollends beherrschte. Auch der Titel des Filmes, der eine Eingebung des Kameramanns gewesen sei, sei als solch ein Rückgriff auf eine anarchische Lebenshaltung zu verstehen. Das Ende des Film wiederum zieht deswegen das Interesse der Diskussionsrunde auf sich, weil hier die Enge der Inszenierung in der Wohnung einer Sequenz weicht, die die beiden bei einem Parkbesuch zeigt. Werner Ružička erkennt hier eine gesellschaftliche Ebene des Filmes, da Ljoscha und Schanna die Menschen mit sich konfrontierten und die Blicke, die sie auf sich ziehen, bereit seien auszuhalten. Till Brockmann stört hingegen die musikalische Unterlegung der Szenen und ihre melancholische Inszenierung in Zeitlupe. An dieser Stelle stimmt ihm Ružička zu: Der wunderbar unsymbolische und konkrete Film drifte hier in den Bereich des Plakativen und Metaphorischen.

Abseits solch ästhetischer Erwägungen stellt das Publikum auch pragmatische Fragen an Ivette Löcker. Diese gibt daraufhin darüber Auskunft, dass sie Wenn es blendet, öffne die Augen zwar sehr gerne in Russland zeigen würde, Ljoscha sie jedoch darum gebeten hätte, den Film zurückzuhalten. Das Thema Drogenkonsum sei nach wie vor ein großes Tabu und Ljoscha befürchte Konsequenzen für sich und seine Mutter. Löcker erklärt, dass es in Russland kaum Hilfe für Suchtkranke gebe, sodass der Film zwar durchaus eine große Relevanz für sich beanspruchen könnte, es genau deswegen aber auch problematisch sei, ihn dort zu zeigen.