Film

Kanegra
von Katharina Copony
AT 2004 | 50 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 28
09.11.2004

Diskussion
Podium: Katharina Copony
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Natalie Lettenewitsch

Synopse

Urlaub in Kanegra, Kroatien. Fünf Teilnehmer aus der Gruppe eines psychischen Beratungszentrums erzählen aus ihrem Leben. Einer referiert über seine Neurose: „Wenn ich ein weißes Auto neben einem schwarzen Auto herfahren sehe, kodierte ich das sofort um in ein Klavier – ununterbrochen dachte ich in Assoziationen“. Eine Sucht. Und: Anderssein bedeutet auch Alleinsein.  

Protokoll

Entstehung

Katharina Copony hat gemeinsam mit Emily Artmann Der Wackelatlas – sammeln und jagen mit H.C. Artmann gedreht (Duisburger Filmwoche 2002). Kanegra ist ihr Solodebut als Autorin, Emily Artmann hat den Film geschnitten.

Wie ist Copony auf ihr Thema bzw. auf den Titel gebenden Ort gestoßen? Ihre Mutter, erzählt sie, arbeitet im Grazer „Beratungszentrum für psychische und soziale Fragen“, das schon seit 20 Jahren Gruppenreisen nach Kanegra organisiert, einer Feriensiedlung im Norden Kroatiens. Sie kam auf den Gedanken, sich einer dieser Reisen anzuschließen und die Teilnehmer zu beobachten, die zum Großteil an Schizophrenie bzw. an Psychosen leiden. Ihre Ausgangsfrage hat sie so formuliert: „Was löst eine Reise in die Fremde in jemandem aus, der zu Hause, in seinem Alltag gewissermaßen auch ein Fremder ist? Was bedeutet überhaupt Fremde, Fremdsein oder sich Selbst-Fremdsein, und was empfindet man als normal?“

Ein Jahr vor dem Dreh fuhr sie zur Recherche mit und lernte dabei drei ihrer nachher fünf Protagonisten kennen, einen von ihnen besonders intensiv. Daher auch, so Werner Ruzicka, ihr stets „geistesgegenwärtiges Reagieren“ in den Gesprächssituationen? Ja, sicher habe das vorherige Kennenlernen die Gespräche in dieser Form ermöglicht; es galt einige Skepsis zu überwinden. Die zwei übrigen Protagonisten, erklärt sie an späterer Stelle, seien von selbst auf sie zugekommen.

Ruhe

Der Ort Kanegra scheint wie abgespalten, fast entrückt. Verschlafen wirkt er auch dadurch, dass die Fahrten des Beratungszentrums in der Vorsaison stattfinden. Später findet seine im Film stilisiert wirkende Farbigkeit Erwähnung, die ihn von einem konkreten zu einem auch abstrakten Schauplatz werden lasse. Ähnlich, sagt Copony, verstehe sie den Filmtitel: Kanegra ist zwar der reale Ortsname, könnte aber auch ein Phantasiewort sein.

Seitens der Teilnehmer sei der Aufenthalt im Jahr des Drehs besonders ruhig und ohne große Zwischenfälle verlaufen, was Copony als vorteilhaft empfand. Ob die Schaffung von Ruhe ihr Konzept war, fragt Werner Ruzicka. Die Kadrierung jedenfalls stelle eine gewisse Ruhe her und biete den Protagonisten filmischen Raum zu Entfaltung. Sind sie davon abgesehen auch „ruhig gestellt“ durch Medikamente? Copony bestätigt diese Vermutung. Und zu ihrem Konzept: In jedem Fall sei es eine bewusste Entscheidung gewesen, den Protagonisten leise zu folgen und sie sprechen zu lassen – ihre Sprache zu hören.

Gemeinsam sei ihnen vor allem die Einsamkeit. Von touristischen Ritualen halten sie sich fern; die meisten wollen nicht einmal im Meer schwimmen. Sie laufen alleine am Strand entlang oder verbringen die Tage zurückgezogen in ihren Bungalows. Diese Isolation wollte Copony bildlich vermitteln. Wir sehen die Gruppenmitglieder immer nur einzeln.

Gegenüber der beschriebenen Ruhe und Konzentration nimmt Werner Ruzicka einige Einstellungen bzw. Kamerabewegungen als fremd war, als mögliche „Schlacken einer ursprünglich anderen Konzeption“. Copony sieht sie als bewusste Brüche. Der überdrehte Eisverkäufer etwa verkörpere den „Einbruch einer anderen Realität“. Zudem verkehre sich hier das Beobachtungsverhältnis: Plötzlich sei er es, der seltsam d.h. fremd wirke.

Material

Die erste Zuschauerfrage greift mit Nachdruck das Leitwort der diesjährigen Filmwoche auf, im Kontext des Tagesprogramms: Bei Kanegra würden, im Kontrast zum direkt zuvor gezeigten Film Á Area, die Nachteile von digitalem Videomaterial hervortreten. Während letzterer unmittelbar aus dem Moment heraus entstanden sei, habe Copony doch eine deutliche visuelle Konzeption gehabt. Ob es sie da nicht schmerze, ihre schönen, klaren Einstellungen als „matschige Soße“ auf der Leinwand zu sehen? Hätte man nicht mehr Geld investieren können, um auf Filmmaterial zu drehen?

Ruzicka will, auch wenn Filmmaterial in punkto Tiefenschärfe und Lichtperspektiven nach wie vor als überlegen gelte, diese Negativbewertung von Videomaterial so nicht kategorisch stehen lassen. Ein Zuschauer verweist dann auf die „andere Normalität des Schizophrenen“, die nur unverständlich oder ungewohnt sei, und überträgt dies etwas bemüht auf Sehgewohnheiten: Warum solle man das „Nicht-Normale“ nicht auch optisch weniger schmeichelhaft auf die Leinwand bringen? Die Analogie trifft in diesem Fall nicht ganz, und die erste Fragerin legt nach: Der Digitalcharakter sei hier sicher nicht hilfreich, sondern liege wie eine „Schmierschicht“ über der beobachteten Welt der Protagonisten.

Produzent Nikolaus Geyrhalter meldet sich zu Wort und äußert sein Bedauern über den beschriebenen Mangel. Es sei aber eine Illusion, dass man solche kleinen Arbeiten auf Film drehen könne – „die Zeiten sind vorbei“. Mit dem Aufkommen von DV habe sich auch die Erwartungshaltung der Sender verändert und die Einzelbudgets seien geschrumpft. Man sei aber schließlich froh, dass der Film mit Blick auf Fernsehauswertung überhaupt habe produziert werden können (Redaktion: Inge Classen / 3sat). Co-Produzent Michael Kitzberger ergänzt, die DV-Kamera habe dafür beim Drehen eine andere Form von Ruhe und zugleich Flexibilität gebracht, als sie bei der Arbeit mit Filmrollen hätte da sein können – das wiederum sei der Vorteil des Materials. Ob man nun einen Verlust feststellen will oder nicht: Die Stilistik des Films vermittele sich in jedem Fall, und im Fernsehen stelle sich die Frage der Bildqualität auch nicht in dieser Weise – sie entsteht aus der Festivalrezeption.

Bild / Sprache

Zurück zu den Protagonisten. Ruzicka erkundigt sich, ob eine immer stärkere Nähe zu ihnen notwendig gewesen sei, oder dann doch eher Grenzziehung? Copony: Natürlich beides. Eine ständige Gratwanderung, zumal sich das Verhältnis fortlaufend verändert habe. Auch Elemente von bewusstem Spiel habe es seitens ihrer Gegenüber sicher gegeben.

Ruzicka fragt nach Coponys Interesse an bzw. ihrem Wissen über Schizophrenie und hebt einen Aspekt hervor – dass sich Normabweichungen vor allem in der Verschiebung von Sprachordnungen ausdrücken. Copony bekräftigt, eben jener Zusammenhang habe sie immer interessiert, ohne dass sie medizinisch bzw. „biochemisch“ präzise über Schizophrenie bescheid wisse. Dazu eine Frage aus dem Publikum: Wie könne man diese sprachliche Thematik im Film überhaupt transportieren, wenn dort die Ordnung der Bilder herrsche? Oder andersrum: Sei es nicht frustrierend gewesen, dass die „eigentlichen Bilder“ von Schizophrenie, d.h. die inneren Bilder der Protagonisten, unsichtbar blieben und man den Umweg über die Sprache gehen müsse? Copony verneint zu Recht – natürlich gibt es im Film immer beides, es wird Sprache transportiert, aber eben nicht nur. Ruzicka beschreibt „sichtbare Symptome“ wie z.B. das ständige Augenzwinkern und –schließen eines der Protagonisten als „Blickverweigerung“. Und, so betont er noch einmal, der Film sei definitiv nicht „unfilmisch“.

Normalität

Copony hat neben ihrer Frage nach dem „Fremden in der Fremde“ auch ihre Absicht formuliert, „weniger auf das Fremde, Andere, als vielmehr auf Vertrautes und Nachvollziehbares, das ungesehene Eigene zu stoßen.“ Das ist offenbar gelungen: Podium wie Publikum sprechen von der Sogwirkung des Films und von etwas „Einleuchtendem“ an den Protagonisten. Eine Szene wird abschließend hervorgehoben, bei der einer der Reisenden während einer abendlichen Tanzveranstaltung „unzugehörig“ im Vordergrund sitzt. Doch nicht er ist der bizarre Fremde, sondern die anderen. So oder so ähnlich kann das wohl die Mehrzahl der Anwesenden nachvollziehen.