Extra

Wie Wirklichkeit erzählen (I)

Duisburger Filmwoche 22
1998

Podium: Annedore von Donop, Jürgen Seidler, Harmut Klenke, Thomas Heise
Moderation: ?
Protokoll: Judith Keilbach

Protokoll

Wie Wirklichkeit erzählen?, so der Titel des diesjährigen EXTRAS, in dessen Rahmen das Thema „Dramaturgie und Dokumentarfilm“ zur Diskussion gestellt wird. Der erste Teil brachte vier VertreterInnen aus verschiedenen Praxisbereichen auf das Podium, die von den Veranstaltern gebeten worden waren, über ihre Arbeitsweise zu berichten und dabei auch zu einigen grundlegenden Fragen Stellung zu beziehen.

Annedore v. Donop, Produzentin und Redakteurin beim Kleinen Fernsehspiel des DZF, stellte ihr Verständnis von der Beziehung zwischen Wirklichkeit und Dokumentarfilm an den Anfang ihres Vortrags: es gebe keine OBJEKTIVE Wirklichkeit; die Abbildung EINER Wirklichkeit zeige nicht DIE Wahrheit, vielmehr würden WahrheitEN existieren. Von dieser Prämisse ausgehend, wird verständlich, warum sie die Grenzbezeichnung ‚Dokumentarfilm‘ (die klassischerweise immer ein Referenzverhältnis zur Wirklichkeit (singular) mitdenkt) zurückweist und die Trennung zwischen fact und fiction in ihrer Arbeit eine untergeordnete Rolle spielt: Wahrheiten lassen sich in jeder Form finden.

Dem (Dokumentar-)Film schreibt sie eine gesellschaftliche Funktion zu: seine Aufgabe sei es, in der Massengesellschaft Kommunikation zu stiften, Austausch anzuregen und Lernprozesse in Gang zu setzen. Er besitze die Möglichkeit, Strukturen im System zu erkennen und Essenzen des Lebens zu erforschen. Ihre Vorstellung vom Prozeß, den der Dokumentarfilm auslösen soll, beschrieb sie mit einer Metapher: sich in andere Perspektiven hineinzuversetzen sei wie eine Reise. Auf dieser sollen sich die Macher, aber auch die Protagonisten und das Publikum begeben. Der Dokumentarfilm müsse offen sein für das, was ‚in der Welt‘, passiere. Es ginge darum, die richtigen Fragen zu stellen und nicht, vorgefertigte Thesen durch einen Film zu bestätigen. Diese Forderung stehe häufig im Wiederspruch der Anliegen der Geldgeber, deren Interesse sich in der Regel darauf richte, wie das fertige Produkt aussehe.

Die Bereitschaft der Macher, sich auf eine ‚Reise‘ einzulassen, versuche sie in ihrer konkreten Arbeit als Produzentin oder Redakteurin im Gespräch herauszufinden. Welches ist der persönliche Antrieb für alle Beteiligten, eine bestimmte Geschichte zu erzählen, so ihre zentrale Frage. Ihre Auswahl realisierbarer Treatments sei davon bestimmt, ob das Thema sie (subjektiv) anspreche, und welche Relevanz (gesellschaftlich, politisch, spirituell,…) es habe. Ein Film müsse anderen etwas geben.

Am Beispiel des letztjährigen Preisträgers Verrückt bleiben, verliebt bleiben, der von ihr produziert wurde, beschrieb sie exemplarisch die Umsetzung eines Stoffes: Welche spezifisch filmischen Verfahren (z.B. Kamerastil) herangezogen werden sollen und warum, welche Besonderheiten während der Arbeit zu berücksichtigen sind usw., seien im Vorfeld zu bedenken. Der Kontrollverlust über das Material (auf den es sich einzulassen gelte) mache dann bei der Sichtung eine Neustrukturierung des Themas notwendig.

Die Frage, ob es dramaturgische Schulen gebe, bejahte Annedore v. Donop: sie sei von den unterschiedlichen Zielsetzungen abzuleiten. Die Dramaturgie sei davon bestimmt, ob ein Film verkaufen, reisen, manipulieren, weltverstehen, erinnern, auklären… wolle.

Jürgen Seidler berichtete von seiner Tätigkeit als Script-Doctor: sein Unternehmen berate Autoren und Regisseure bei ihren – hauptsächlich fiktionalen – Filmprojekten. Beauftragt werden die „käuflichen“ Kreativen u.a. von Produzenten und Fernsehunternehmen, die ihre Produkte durch das professionell angebotene Wissen über die Konventionen und Techniken des Erzählens verbessern lassen wollten. Ziel der Dienstleistungen sei es, die Autoren in ihrer kreativen Entwicklung zu unterstützen. Die Arbeit gehe über die Analyse der Vorlage hinaus: Im Gespräch mit dem/n Autoren werden die Optionen des Erzählens aufgezeigt, bei Nachfrage teilweise sogar bis zur Co-Autorenschaft mitgearbeitet.

Die Erzählform sieht er jeweils vom Thema abhängig, wobei er zwischen Inhalt und innerem Thema unterschied. Wenn ein Autor/enteam letzeres herausgefunden habe (z.B. die Sehnsucht eines Menschen, dessen Alltag in einem Dokumentarfilm vorgestellt wird) könne es episch gegliedert werden. Dabei sei eine „universelle Erzählung“ angemessen: ein breiter Zugang, ein emotionales Überspringen werde erreicht, wenn das innere Thema als allgemein menschliches erkannt werde.

Rezepte für das dramatische Erzählen gebe es nicht: zwar könne auf unterschiedliche Erzählstrukturen zurückgegriffen werden (Aristoteles‘ 3-Akt- Struktur, episodische Struktur…), grundsätzliche gehe es aber darum, die in den Figuren angelegten Ziele und Bedürfnisse zu verstärken. Auch für den Dokumentarfilm funktionieren derartige Erzählstrukturen, wenn sie im Stoff angelegt seien. Als Beispiel berichtete er aus einer Tierdokumentation, in der Nasenaffen einen von Krokodilen bevölkerten Fluß überqueren. Schaffen sie es? so die spannungsvolle Frage. Volker Heises Einwand, daß die Wirklichkeit nicht als Parralelmontage stattgefunden habe, ging in der Begeisterung über das witzige Beispiel leider unter.

Trotz der Kategorienbildung, mit der das Funktionieren von Dokumentarfilmen schematisiert werde (die jedoch – entgegen des Eindrucks, den der Referent vermittelte – aus der beschreibenden Analyse entsteht, es sich also nicht um normative Kategorien handelt) gebe es keine Ideallinie. Häufig entstehe erst beim Sichten des Materials und im Schneideraum das dramaturgische Konzept: die Beratung im Vorfeld könne lediglich „Klarheit“ über das Anliegen des Films schaffen.

Gegen den Einwand, die Vielfalt der Subgenres würde durch den dramaturgischen Regelkanon verschwinden, verwies Seidler nochmals darauf, daß es darum gehe, die innere Struktur eines Stoffes zu finden. Dramaturgie bedeute, das Filmmaterial zu organisieren.

Harmut Klenke kennt die Fragen der Fernsehanstalten an dokumentarische Themen sehr genau. Früher im non-fiction Bereich bei Premiere tätig und heute – gewissermaßen auf der anderen Seite des Schreibtisches – Produzent, berichtet er, nach welchen Kriterien er entscheidet, ob ein angebotener Stoff interessant und gut erzählbar ist. Acht Fragen stellte er, die vom persönlichen Interesse über Emotionalität, Identifikationsmöglichkeiten bis zur Mehrheitsfähigkeit reichen und deren positive Beantwortung die Absetzbarkeit bei einem Sender garantieren. Da die fertigen Dokumentarfilme erfahrungsgemäß erheblich vom eingereichten Konzept abweichen, seien diese Fragen ebenso wie das Verhältnis zum Regisseur auch für das eigene Gefühl, das Vertrauen in ein Projekt wichtig.

Bestimmte Erzählstile seien ihrer Zeit angemessen gewesen, aber heute könne man keine Filme à la Eisenstein mehr machen. Es gelte, an die Quote zu denken und „die Zauscher abzuholen“, sagte er, und ließ die britische Doku-Soap Children’s Hospital einspielen. Die Spielfilmdramaturgie sei durchaus auf Dokumentarfilme übertragbar und nur wenn „der Zuschauer“ emotional angesprochen sei, werde er auch „im Kopf“ erreicht.

Bereits bei der Herstellung von Filmen sei außerdem zu bedenken, wem die Produktion angeboten werde: Filme müßten an das Production Design der Sender angepaßt werden. Auch Fragen wie Image, Demographie, Sendeplatz, Etat und die Launen der verantwortlichen Personen und Entscheidungsträger seien zu berücksichtigen.

Der Filmemacher Thomas Heise versuchte zuerst, das Quoten-Argument zu entkräften, auf dem die Entscheidung basiert, ob ein Film überhaupt produziert wird: Urteile man nach dem Absatz-Kriterium, hätte man Goethe in seiner Zeit keine Chance gegeben.

Die Dramaturgie von Dokumentarfilmen lasse sich nicht entlang eines Regelwerks festlegen, denn – hier wurde der im Laufe der Filmwoche immer wieder zitierte Satz in Zirkulation gesetzt – wie man wisse, sei das Material klüger als der Autor.

Zwischen Dokumentarfilmen für das Fernsehen und für das Kino sei deutlich zu differenzieren: bereits die Rezeptionssituation verlangten unterschiedliche „Verpackungen“. Dies habe auch für die Dramaturgie Folgen: Produktionen für das Fernsehen würden einem Aktualitätszwang unterliegen, sie müßten auf die Gegenwart eingehen (wobei es gelte, Wege zu finden, um andere Formen im Fernsehen präsentieren zu können). Im Kino wäre eine Konzentration auf den Film möglich, d.h. es könnte auf andere Inhalte und komplexere Formen zurückgegegriffen werden.

In seiner eigenen Arbeit habe ihn immer wieder das shakespearsche Element der Fallhöhe interessiert. Aus der verworrenen Beschreibung des faktischen Zustandes einer Figur, zu der er über einen längeren Zeitraum Nähe herstelle, haben sich Raster herausgebildet, die in die Strukturierung des Films eingingen. Dabei sei ihm die Balance zwischen Emotion und Abstand wichtig, d.h. es müsse immer wieder Zäsuren geben und Pausen gesetzt werden, die eine Distanzierung ermögliche. Da er zu Produktionsbeginn nur die Biographie seiner Protagonisten kenne, jedoch nicht wisse, in welche Richtung diese ihn mitnehmen werden und welche Aussagen er selbst treffen wird, gestalte sich Arbeit mit Produzenten für ihn schwierig. Das Material sei erst am Schneidetisch zu organisieren, die Dramaturgie des Filmes dementsprechend von der „Schnittmeisterin“ erheblich mitbestimmt. Während er Produzenten potentiell als Feinde verstehe, greife er zur produktiven Auseinandersetzung über seine Arbeit auf Freunde zurück, denen er teilweise mehrere Schnittfassungen vorführe.

Was eigentlich als Werkstattgespräch geplant war, geriet letztendlich zur monologisierenden Vorstellungsrunde – für Diskussion und Gespräch blieb kaum noch Zeit. Zu viele ReferentInnen auf dem Podium (möglicherweise auch in einer ungünstigen Konstellation hinsichtlich ihrer Praxisfelder), die sich zu lange ungebremst präsentieren durften.

Anmerkungen aus dem Publikum: Über Dramaturgie habe er nichts Neues erfahren, finde aber die MACHTpositionen, die mehrfach wurden, bedrohlich, so ein Zuhörer. Daß Produzenten sich an der Quote orientieren sei eine Sache, so ein Anderer, aber daß nun auch Filmemacher aus dieser Perspektive argumentierten, sei bedenklich. Jemand gab zu bedenken, daß die Sendeplätze für Dokumentarfilme aufgrund ‚populärer‘ Produktionen erhalten blieben. Interessant sei, daß inzwischen ‚ernsthafte‘ Dokumentarfilme und Doku-Soaps von den gleichen Personen gemacht würden, eine weitere Stimme.

Nachdem einige Zuschauer die angekündigten Filmbeispiele einforderten und auch bekamen, löste sich die Diskussionsrunde schnell auf. Der erste Teil des EXTRAS hinterließ bei vielen Besuchern den Eindruck, nichts erfahren und nichts geklärt bekommen zu haben.

 Stefan Sachs, Inge Claßen v.l. © Ekko von Schwichow
Stefan Sachs, Inge Claßen v.l. © Ekko von Schwichow