Film

Solange will nach Hause
von Cuini Amelio-Ortiz
DE 1994 | 30 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 19
08.11.1995

Diskussion
Podium: Cuini Amelio-Ortiz
Moderation: Susa Katz, Werner Schweizer
Protokoll: Judith Klinger

Protokoll

Zusammenfassend die in der Diskussion nachgefragten Hintergrund-Informationen:

– Gedreht wurde SOLANGE Will NACH HAUSE innerhalb von drei Wochen, unter den Bedingungen des Milieus: Nicht nur wurden Amelio-Ortiz und ihr Begleiter zuerst für Kunden der Kinder-Prostituierten gehalten, die Filmemacherin hatte die nächtliche Drehzeit auch nach dem üblichen Tarif zu bezahlen.

– Die Beschützerinnen der beiden Mädchen wichen tatsächlich keinen Moment von deren Seite, wollten sich aber nicht filmen lassen. Zuerst, so die Regisseurin, sei sie angenehm überrascht gewesen, statt Zuhältern diesen mütterlich wirkenden Frauen zu begegnen. Erst noch und nach stellten sich Zweifel ein.

– Die Zuhälter, die zuletzt die Tür des Hotelzimmers aufgebrochen haben, um sich der Mädchen zu bemächtigen, sind nicht zu unterschätzen, haben aber keine organisierte Mafia ausgebildet – anders als im Bereich der Tourismus-orientierten Prostitution: Systematisch und weit lukrativer werden Fernreisende von Profis mit sieben- bis neunjährigen Kindern versorgt.

– Zuletzt: Solange und Claudia sind, soweit man weiß, seit ihrer Heimkehr unbehelligt geblieben. Die Familien wissen nichts von der Prostitution der Kinder. Amelio-Ortiz glaubt, daß die grundsätzliche Bereitschaft der Mädchen, das Schweigen zu durchbrechen, den einzig denkbaren Schutz bietet: Die Zuhälter werden es nicht riskieren wollen, daß ihre Masche, Dorfkinder als Dienstmädchen anzuwerben, durchschaut wird.

Es bleibt nicht aus, daß sich moralische Fragen stellen. Wie wäre die Sicherheit der beiden Geflohenen besser zu garantieren gewesen? Amelio-Ortiz dagegen: „Damit muß man leben, wenn man solche Filme macht. Als Kassiererin im Supermarkt ginge ich natürlich nicht so ein Risiko für mein Gewissen ein“. Und fragt zurück: „Was hätten Sie gemocht?“ So eine Frage ist selbstverständlich unbeantwortbar. Vermutungen, die spannungsgeladene Flucht am Schluß des Films gehorche nicht sachlicher Notwendigkeit, sondern medienspezifischer Dramaturgie, weist Amelio-Ortiz zurück. Auch auf die sparsam eingesetzten Mittel der Dramatisierung durch Standverlängerungen und Klang-Effekte wäre die Regisseurin nicht von alleine verfallen: Ihr Produzent habe das angeregt, sie selbst hätte die Zuschauer lieber im Dunkeln toppen lassen, analog der eigenen Ahnungslosigkeit zu Beginn der Dreharbeiten.

Paradoxerweise produziert dann gerade ein solcher Film, der ausschließlich in den Kategorien des Wirklichen und Echten verhandelt wird, Glaubensfragen. Ein Zuschauer führt sich im Gestus der Selbstbeglaubigung ein: Selbst schon als Filmer auf den rauhen Straßen der Neuen Welt unterwegs gewesen, will er die Regisseurin von der Existenzfrage auf •Schwein gehabt• herunterhandeln. Das provoziert ein Bekenntnis von anderer Seite: „Ich glaube an die Gefahr!“ Doch: es kann auch beim Filmemachen um Leben und Tod gehen. Jemand anders artikuliert Zweifel: Die wirkliche Wirklichkeit von Sao Paulo ist noch weit gefährlicher, was man schon daran erkennen könne, daß das Filmteam nicht samt und sonders von Profi-Killern gemeuchelt wurde. Also doch Glück gehabt. Amelio-Ortiz beschreibt plastisch die Flucht ihres Teams, vier Tage des Versteckens auf einem Segelboot, weil alle Auslandsflüge ausgebucht waren.

Die Zweifel bleiben, es will sich keine Einigkeit darüber herstellen, ob das Hantieren mit der Kamera, unmittelbar an den Fronten der Gewalt, die Filmemacher exponiert oder nicht doch eher Schutz gewährt. Machtinstrument Kamera, der Name des Fernsehsenders als apotropäisches Amulett. Ein Indiz aus dem Film: Die Mädchen weisen darauf hin, ihre Aussogen bereits dem Videoband anvertraut zu hoben, worauf die Zuhälter Verhandlungsbereitschaft signalisieren. Das Dokumentierte schützt, aber die Kamera sieht eben nicht überall hin, hat den Moment, in dem Amelio-Ortiz ihr Leben von akuter Waffengewalt bedroht sah, nicht registrieren dürfen. Damit bleiben dem Auditorium nur emphatische Äußerungen des Glaubens oder Unglaubens an die Echtheit und Unmittelbarkeit des Risikos. Die- aus ähnlichen Diskussionen bekannte- Forderung, diesen Film in ein informatives Rahmenprogramm einzubetten, artikuliert ein Verlangen nach der Wirklichkeit, das uneinlösbar bleiben muß, am Falschen Ort also. Der Dokumentarfilm ist nicht das Leben, und die geforderte Erhöhung der Authentizitätsdosis kann diese Grenze durchaus effizient verschleiern, aber nicht aufheben.

 Judith Klinger, Antje Ehmann v.l. © Ekko von Schwichow
Judith Klinger, Antje Ehmann v.l. © Ekko von Schwichow