Protokoll
Der erste Teil der Diskussion kreist um das altbekannt-neuinszenierte Milgram-Experiment, dessen Rolle im Film der Regisseur im Sinne seines eigentlichen Themas verstanden wissen will: Angebot zur Verallgemeinerung, daß der Zuschauer ergreifen möge, um sich nicht übermäßig von den Scharfschützen zu distanzieren. Hier geht es um den Menschen, und es ist zu lernen, daß in jeder Seele ein verborgenes Gewaltpotential auf den Weckruf harrt. Sakulowski hat also, Konsequenz von Beschaffungsschwierigkeiten, statt ältere Milgram-Dokumente einzuschneiden, das Experiment im Dekor der siebziger Jahre ein weiteres Mal verfilmt, freut sich nun an der sauber-ordentlichen Authentizität von Inszenierung und Ausstattung und daran, daß mit dem Kunstgriff einer Überspielung des Bandes von Beta auf VHS eine historische Unschärfe ins Bild geraten ist. Außerdem und nicht zuletzt demonstriert diese Sequenz, daß auch im 35 mm-Werk die Monitor-Abbildung über längere Strecken auszuhalten ist. Dietrich Leders Einwurf über die „doppelte Fiktionalisierung“ dieses Unterfangens findet indes ebensowenig Sakulowskis Gehör wie die auf eben dies Problem der Relation von Inszenierung und Beobachtung zielende Bemerkung einer Zuschauerin, die nach der tatsächlichen Vorführsituation im Seminar gefragt hatte: Den Präzisionsschützen wurde nämlich, das sei vollständigkeitshalber hinzugefügt, nicht Sakulowskis Milgram-Remake, sondern eine ältere, französische Version vorgeführt. Also „noch mehr Verdrehung“ des Fiktiv -Dokumentarischen ?
Die Anonymität der vorgestellten Polizisten bildet den nächsten Ankerpunkt im Gespräch. Nachdem Ralf Sakulowski seine Arbeitsbedingungen unter Anonymitätsgebot offengelegt hoHe, bekannte er sich gleich anschließend – gegen den Wunsch verschiedener Zuschauer, auch über Seelenlage und Situation des einzelnen Scharfschützen mehr zu erfahren – programmatisch zu solcher Beschränkung: Er leide an einer „krankhaften Abneigung“ gegenüber dem (von Gesprächen mit Polizisten offensichtlich berstenden) Reality TV und habe sich daher für einen Film mit Polizisten über ein bestimmtes Problem entschlossen. Auch sei von den Männern dieses Kommandos keiner bislang in die Nähe des Tötens geraten.
1. Zwischenruf: „Welches Problem ? Wir wissen das doch alles gar nicht !“
Erst nach einem flüchtigen Exkurs in die Sphäre der schönen Bilderkühle und der klirrenden Geräusche, mit denen sich eine Zuschauerin nicht abfinden wollte, nennt Sakulowski sein Thema: Gehorsam – siehe Milgram. Die routiniert rauschende Rede des Seelsorgers bildet ein weiteres Sinnzentrum, denn mit solch genereller Referenz auf biblische Gebote sei dem singulären Problem nicht beizukommen. Er selbst habe bald begreifen müssen, daß nicht ausgemacht ist, wer am Ende schießt, wer sich als des Tötens fähig erweisen wird. Geschlossene Ausbildung und Hermetik der Gruppe legen dem Regisseur den Gedanken nahe, daß Gewalt womöglich nicht als Hervorbrechen aus den Untiefen der Person zu denken sei, sondern durch bestimmte Strukturen dieses Kommandos induziert werden kann. Dietrich Leder sucht hier den Anschluß an Bad Kleinen und beschreibt die öffentliche Fiktion, 1einen Mann zur Maschine zu machen und dann zu hoffen, daß die Apparatur, die diese Maschine bedient, demokratisch funktioniert‘. Das allerdings scheint Sakulowskis Thema nun gerade nicht gewesen zu sein: Das Töten hat nämlich hier noch nicht stattgefunden und so fielen auch in der Diskussion um das Milgram-Experiment leider auch keine „philosophischen Sätze“.
An der Frage über die strategisch vermiedene Abenteuerlichkeit in der Widergabe des Scharfschützenalltags scheiden sich abermals die Geister, denn was dem einen Zuschauer unklar und langweilig erschien – im Gegensatz zu den gesprächsweise nachgelieferten Kenntnissen des Regisseurs – kann der andere als angenehme Ruhe, die sich dem RTL-typischen Voyeurismus verweigere, goutieren. Die gern diskutierte Frage, wie Langeweile darzustellen ist, ohne den Zuschauer damit zu infizieren, wurde auch in diesem Gespräch nicht geklärt.
2. Zwischenruf: „Was war denn nun das Thema ?“
Das Thema wurde aber schon genannt, siehe oben. Einer unmittelbaren Klärung leichter zugänglich war die frage nach Richard von Weizsäcker und den Schützen auf dem Dach: im Film simultan verkoppelt in der Realität zeitlich versetzt, aber doch, so Sakulowski, „wahrheitsgemäß montiert“. Punktiert wurde die Diskussion von Anregungen und Vorschlägen, was im Film zu thematisieren hätte interessant sein können, aber nicht zu sehen war, vielleicht in Form eines Buchs (des für sachliche Informationen adäquateren Mediums, fand der Regisseur) noch nachgeliefert wird. Ob das ethnologisch-neugierige Interesse Sakulowskis nicht von einem unterstellten Gewissenskonflikt der Scharfschützen unterlaufen worden sei, fragte eine Zuschauerin, denn dies Problem stelle sich den Filmprotagonisten gar nicht, und gerade DAS sei doch sehr aufschlußreich. Die Vogelperspektive auf Weizsäcker und die Queen regte weiter zum Nachdenken über Attentäter und deren Motivation an, über die Faszination der Macht, wie sie schon in der unentschiedenen Frage, ob Waffen ein Fetisch sind, oder ob nur ein Vorurteil es so will, angeklungen war. Zumal die Frage noch dem Gewissen und staatlicher Gewalt-Delegierung durch die gesamte Diskussion geisterte, hätte sich wohl eine Verbindung zu Manfred Schneiders Überlegungen vom Vortag ziehen lassen: Die Anonymisierung und Verheimlichung von Gewaltausübung als Signum des modernen Staates, wie sie der Gesichter verweigernde Film geradezu illustrierte, kam hier allerdings nur als moralische Frage vor.