Film

Polizeirevier Sao Paulo
von Ulrich Stein
DE 1990 | 30 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 14
15.11.1990

Diskussion
Podium: Ulrich Stein, Thomas Schaefer (Redakteur SPIEGEL TV)
Moderation: Klaus Kreimeier, Karl Saurer
Protokoll: Judith Klinger

Protokoll

Im Gespräch um Ulrich Steins „Polizeirevier Sao Paulo“ stand weniger der Gegenstand als seine filmische Zubereitung im Mittelpunkt: Die Spiegel TV-Reportage und ihr Verhältnis zum Spektakulären – ein Thema, das angesprochen, aber keineswegs erschöpfend diskutiert wurde.

Das Polizeirevier begreife er als Prisma einer gesellschaftlichen Situation, wie sie für Länder der Dritten Welt überhaupt symptomatisch sei, erklärte Stein; in der explodierenden Gewalt würden konkrete Konflikte sichtbar, die man sonst nur aus abstrakt gehaltenen Zeitungsmeldungen kenne. Ein siebenjähriger Aufenthalt in Brasilien bilde die Grundlage dieser in sieben Tagen. gedrehter: Reportage, und daß in solcher Form keine eigentliche Analyse zu leisten sei, verstehe sich. Auf die vorsichtige Frage hin, ob bei längerer Drehzeit ein anderer Film hätte denkbar werden können, ergänzte Themas Schaefer, tatsächlich sei aus dem gedrehten Material ein zweiter Teil der Reportage entstanden, der die Darstellung der Gewalt noch verdichte.

Kritisches Nachhaken in Bezug auf den Informationsgehalt der Reportage, sowie ihre Tendenz zum Voyeurismus, die eine Zuschauerin mit Blick auf die Darstellung der Transvestiten feststellte, beantwortete Stein mit dem Hinweis auf die potentielle Übertragbarkeit einzelner Phänomene ins Allgemeingültige: „Das kann man auch symbolisch sehen“. Das krass Zeichenhafte sei manchmal notwendig; im übrigen bleibe es eine Frage der Ideologie, wenn man die filmische Beschreibung von Tod und Gewalt nur im Zusammenhang mit analytischem Tiefgang zu akzeptieren bereit sei.

Positiv hob Günther Minas am Genre des „Emergency-Films“ hervor, daß es Dinge zeige, die sich in sonst unzugänglichen Bereichen abspielen, schloß daran jedoch eine Kritik an der Risikolosigkeit an, mit der die Sao Paulo-Reportage hergestellt wurde: Wenn ein Team unter Polizeischutz auftritt, haben die Gefilmten wenig Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzen. Dieser „alten Frage nach den Persönlichkeitsrechtenil hielt Stein Szenen entgegen, die aufgrund der Ablehnung aller Beteiligten nicht gedreht worden seien, und gab zu bedenken, daß seine Reportage in Brasilien schließlich nicht ausgestrahlt werde. Die Position des Filmemachers, der sich auf der Seite derer, die Macht ausüben, befindet, wurde im folgenden nicht weiter hinterfragt.

Zur Debatte standen stattdessen Techniken wie das ‚Prinzip der Übersteigerung‘ und die in diesem Fall resultierende Beschränkung möglicher Assoziationsfelder (Fosco Dubini), aber auch die Tendenz zur Fiktionalisierung, zur Anlehnung an erfolgreiche narrative Muster des Spielfilms, die man vor allem im Vorspann und im Schluß des Films zu erkennen glaubte. Er halte die Übernahme solcher Muster – wie etwa die Entwicklung einer Identifikationsstruktur – für durchaus legitim, erläuterte Stein. Aus der Perspektive des Redakteurs fügte Schaefer hinzu, ein spannungsgeladener Film-Aufhänger sei nicht zuletzt Ausdruck der Konkurrenz zu fünfzehn weiteren Fernsehprogrammen. In diesem Fall sei die Rechnung aufgrund des gleichzeitig ausgestrahlten Fußball-Weltmeisterschaftshalbfinales allerdings nicht ganz aufgegangen.

Seine Haltung gegenüber den möglichen Konstruktionsprinzipien eines Dokumentarfilms erläuterte Stein anhand eines Zitats von Rosselini: „Zärtlichkeit ist die einzige moralische Haltung.“ Nun gehe es nur noch darum, diese Zärtlichkeit genauer zu bestimmen. In diesem Sinne sah Stein das von Fosco Dubini angesprochene Mißverhältnis von präziser Darstellung und dem ‚Konstruktionsprinzip Spannung‘ nicht als grundsätzlich moralisches Problem: „Dokumentarfilme sind keine Wahrheit, sondern immer historisch bedingte Konstruktionen.“

Da der Autor von „Kälte, Mord und Perestroika“ nicht anwesend sein konnte, fragte Klaus Kreimeier den Leningrader Regisseur Pavel Kogan abschließend nach seinem Eindruck von der Darstellung der eigenen Stadt in dieser Reportage.

Als Reportage gesehen gefalle ihm die Arbeit gut, antwortete Kogan, als Erzählung der Lebensumstände von Menschen sei sie weniger gelungen. Die Perestroika-Politik habe überhaupt eine Krise des Erzählens zur Folge: Wo früher öffentliches und privates Sprechen scharf voneinander geschieden waren, führt die noch nicht wirklich begriffene Freiheit zu unüberlegtem Reden; nicht das Nachdenken, sondern die bloße Möglichkeit, offen anzuklagen, zu beschuldigen, steuert das Erzählen. Mit Blick auf die vorangegangene Diskussion fügte Kogan hinzu, es gebe auch in Leningrad einen bekannten Fernsehjournalisten, der effektvoll Gewalt und Kriminalität vorzeige. Seine Wirkung beziehe dieses Programm aber allein aus dem Reiz des Neuen, bisher Verborgenen.