Film

Deutschland Halluzination
von Oliver Becker
DE 1990 | 10 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 14
15.11.1990

Diskussion
Podium: Oliver Becker
Moderation: Klaus Kreimeier, Sybille Licht
Protokoll: Torsten Alisch

Protokoll

Klaus Kreimeier sprach von der INTUITION als entscheidendem Gestaltungsprinzip dieser beiden Filme: Eine filmische Machart, die es dem Dokumentarfilm-Fachpublikum in Duisburg („Wir sind ja hier unter Kollegen“, hieß es bei einer vorhergehenden Diskussion) Schwierigkeiten zu bereiten scheint, mit dem Gesehenen klarzukommen oder es in Worte zu fassen. Konventionelle Fragen nach Konzeption. Inhalt oder Absicht helfen jedenfalls nicht viel weiter, wenn es eigentlich um das Puzzle im eigenen Kopf geht, das man nicht hinkriegt.

„Deutschland Halluzination“ beginnt mit kreisblendenähnlichen Einstellungen, die sich im Laufe des Films öffnen. Die Bearbeitung des Materials Film sowie die Art der Montage erinnerte Klaus Kreimeter an experimentelle Dokumentarfilme der 60er Jahre: „Antiquiert“, war sein erster Eindruck, der sich jetzt – nach nochmaligem Sehen – zu „interessant antiquiert“ verändert hatte. Das war auch Oliver Beckers Befürchtung beim Drehen des Films, da das fertige Werk genau diesen Eindruck machen könnte. Jetzt allerdings, im Vergleich zu all den tausenden anderer Aufnahmen von unzähligen Film- & Fernsehteams aus aller Welt, erschienen sie ihm als nicht so austauschbar.

Oliver Becker wollte durch die filmische Gestaltung das aktuelle Geschehen von sich wegrücken – Distanz schaffen, um zu einer Klarheit zu kommen – das Ganze aber nicht als festgefügtes Drehkonzept, sondern auf experimenteller Basis: Das Experiment als Versuch; ausprobieren; ein Wagnis eingehen und gucken was dabei herauskommt.

Die Folge dieser experimentellen Arbeitsweise sind Brüche im filmischen Stil, die das ganze Werk. durchziehen. Da taucht diese ruhige Sequenz mit der Pionier-Eisenbahn auf (im konventionellen dokumentarischen Stil gedreht) und danach geht es auf rasante Art ins Chaos des Centrum-Kaufhauses am Tag der Währungsunion („Videoclipästhetik“) – genau hier fand sich eine Entsprechung von Inhalt und Form: „Das war die Stimmung im Kaufhaus, die Leute wollten nichts verpassen beim Schauen. Es herrschte sinnlose Bewegung. Kaufen wollte da kaum jemand was.“ (Oliver Becker).

Ein Großteil dieser ‚Szenen‘ wurde schon in der Kamera geschnitten: Intuitiv gedreht.

Im zweiten Film „DDR- Ohne Titel“ war es die Intuition der Montage, die auffiel: Harry Rags Arbeiten mit „Spannung und Entspannung“. Es gibt diese langen, ruhigen Einstellungen, die ganze Sequenzen des Films ausmachen (in denen Sybille licht als ehemalige DDRlerin das „andere Umgehen mit Zeit im Osten“ wiedererkannte), die dann ruckartig von kurzen, sehnenden Bildern abgelöst werden (für Sybille Licht „typisch westliche Bilder“: Sie war froh, daß ein Westdeutscher dieses Wesentliche an Ostlern entdeckt habe).

Harry Rag war mit kleinem Team zwei Wochen durch die Gegend gefahren und hatte seine Bilder gesammelt. Eine Liste mit vagen Ideen (Kirche, Elektrik. Volksschule u.a.) war ihm immer dann hilfreich, wenn einige Zeit nichts gefunden wurde: Sie fuhren in den nächsten Ort, um sich bei der „Kirche“ umzuschauen.

Der Film entstand nicht aus einem journalistischen Ansatz, um ein in sich geschlossenes Bild der ehemaligen DDR herzustellen: Das sei für Harry Rag unmöglich, sowas in 60 Minuten versuchen zu wollen. Er hat stattdessen Bilder gesammelt und sie später von ihrer Stimmung her zusammengefügt. Auch die Filmmusik entstand im Nachhinein: Er hatte nur eine vage Vorstellung, daß es etwas mit klassischer Musik zu tun haben müsse. Der Komponist hat den Film nie im Ganzen gesehen. Die Vertonung entstand im Ausprobieren der verschiedensten komponierten Stücke zu den montierten Aufnahmen.

Bei den Dreharbeiten kamen die Leute oft ganz von selbst an, um ihnen etwas zu erzählen oder zu zeigen. Viel davon aber war peinlicher Schrott, den er weggelassen hat, um die Leute nicht auf diese einfache Art lächerlich zu machen.

Eine Frage bezog sich auf den Text, der an drei Stellen im Film verwandt wird. Harry Rag hatte eigentlich viel mehr geschrieben, wußte aber gar nicht. was und wieviel davon ins fertige Werk gelangen würde. „Im Mittelpunkt der Zukunft wird die Vergangenheit stehen“: Dieser fiel Harry Rag am Tag der Währungsunion ein, als er all die Kamerateams sah und sich fragte, wann man denn diese ganzen Bilder zu sehen kriegt: Später! Eine Folge der Videoüberschwemmung sei eine immer größer werdende Ansammlung von Vergangenheit, die sich auf Bergen von Videobändern stapele, und irgendwann in der Zukunft als Vergangenheit angeschaut werden.