Film

Lernen können ja alle Leute. Das Modell Harburg. 1. L und I heißt Liebe
von Heide Breltel
DE 1988 | 188 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 12
13.11.1988

Diskussion
Podium: Heide Breltel, Gisela Tuchtenhagen (Kamera)
Moderation: Bärbel Schröder
Protokoll: Anne Schiwek

Protokoll

Heide Breitel hat mit Christel Manske, Leiterin des Hamburger Modellversuchs Elbwerkstätten, schon einmal einen Kinderspielfilm für das ZDF gedreht. Weil die Hamburger Filmförderung die finanzielle Unterstützungs des Films ablehnte und auch der NDR zögerte, begann sie auf eigene Faust mit dem Film. Sie verschuldete sich zunächst mit 5o.ooo DM, bevor der NDR die Trilogie kaufte.

Vertrauen zu den Behinderten baute H. Breitel durch regelmäßiges Erscheinen in der Werkstatt auf. Sie betonte immer wieder, wieviel sie von den Behinderten gelernt hätte. Sie seien sehr offene und liebevolle Menschen, die unsere Formen der Abgrenzung nicht kennen würden.

Für den Modellversuch ·wurde zunächst .nur eine Planstelle bewilligt, alle anderen Stellen sind AB-Maßnahmen. Die Werkstätten werden jetzt durch weitere Pädagogen erweitert, die von Christel Manske ausgebildet werden.

Mehrere Zuschauer, die beruflich mit Behinderten zu tun haben, äußerten Betroffenheit über den Film.

Zwei Sozialarbeiter einer Behindertenwerkstatt beklagten die mangelnde Resonanz auf solche Filme in der eigenen Institution. Die Helfer selbst seien hilflos; sie hätten nie erlebt, daß auch Geistigbehinderte ein Leben lang lernen könnten.

H. Breitel hat 25 Institutionen der Duisburger Region zur Vorführung des Films eingeladen, von ihnen ist niemand erschienen. In Zukunft will sie mit dem Film in möglichst vielen Behinderteneinrichtungen Aufklärungsarbeit betreiben. Es sei ihr Anliegen, nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch bei Mitarbeitern von Werkstätten Bewußtseinsprozesse zu fördern. Sie wolle mit dem Film zeigen, daß das Lernen für Behinderte auch in einem späten Lebensabschnitt sinnvoll sei. Man gehe davon aus, daß Mongoloide nicht Lesen und Schreiben lernen könnten. Die Behinderte Barbara beweist aber das Gegenteil, sie schreibt an einem Buch über den Modellversuch. Auch Ralph könne jetzt selbständig seine Freundin besuchen, da er in der Lage sei, Verkehrsschilder zu lesen. Bei anderen seien erst durch das Lernen eine Sehbehinderung oder eine falsche Brille aufgefallen. Auch Marita, die an Jens einen Liebesbrief schreibt, sei keine „tragische Erscheinung“, wie jemand behauptete. Sie habe vorher in einem Heim gelebt, dort nur Kartoffeln geschält und sei völlig autistisch gewesen. Sie habe sich in der neuen Einrichtung äußerlich sehr verändert. Viele der Behinderten ständen unter starkem Tabletteneinfluß. Die Arztgläubigkeit unter Eltern von Behinderten sei weit verbreitet.

Das Erlernte gehe natürlich verloren, wenn die Förderung unterbrochen oder beendet würde. „Früher wurden die Behinderten vergast, heute werden sie isoliert.“

Ein Zuschauer hielt ihr entgegen, daß in der Regel nicht die Ambitionen der Mitarbeiter Uber die Qualität einer Einrichtung entscheiden, sondern die knappen finanziellen Mittel, die Einzelunterricht nicht ermöglichen. So sei auch Christel Manske keine „Wunderfrau“, sie habe das entsprechende Umfeld für ihre Arbeit.

Die Filmemacherin sieht den Ursprung des Übels in den Sonderschulen, die behinderte Schüler zu sehr auf praktische Fähigkeiten trainieren, statt sie in so wichtigen Kulturtechniken wie Lesen , Schreiben und Rechnen zu fördern. Versäumtes nach dem 16. Lebensjahr nachzuholen, sei sehr schwierig. Viele Behinderte erlernen nur einfache Handgriffe für die Produktion. Handgriffe, die von Maschinen nicht ausgeführt werden können. Dadurch würden sie zu billigen Arbeitskräften degradiert.

Eine Sonderschullehrerin wies auf die hohen Erwartungen der Eltern an die Sonderschulen hin, möglichst schnell Erfolge zu bringen. Resignation und Enttäuschung sind die Folgen. Sie frage sich, warum sie die Schüler mit Schreiben und Lesen quälen solle bei zu geringer Motivation?

Angeführt wird auch das Desinteresse des Arbeitsamtes, das nur an der Finanzierung von Maschinen und Arbeitskräften interessiert sei.

Sehr glücklich war H. Breitel, daß sie für einen längeren Zeitraum die Kamerafrau Gisela Tuchtenhagen gewinnen konnte. Immer wenn ein qualitativer Sprung in der Lese- und Schreibfähigkeit der Behinderten sichtbar war, hätten sie 14 Tage lang in den Werkstätten gedreht. Momente der Frustration und Enttäuschung stehen deshalb weniger im Vordergrund.

Die Kameraarbeit von G. Tuchtenhagen wurde vielfach gelobt. Da sieh Behinderte gut konzentrieren können – so H. Breitel – sind keine Momente der Irritation beim Gefilmt-Werden aufgetreten. G. Tuchtenhagen hat mit Gummilinse gedreht, ist aber auch sehr nah an die Behinderten herangegangen. Durch die Nähe der Kamera – so eine Zuschauerin – konnte sie sich nicht den Behinderten entziehen. Die anfängliche Fremdheit sei der Erkenntnis gewichen, wie reich das Leben von Behinderten sein könne.

Für G. Tuchtenhagen waren die oft nicht kalkulierbaren Handlungen der Behinderten neu, was bei der Kamera eine leichte Verzögerung bewirkte. Es wurde hervorgehoben, daß sich aber gerade der langsame Kamerarhythmus auf den Zuschauer übertrage, auf die Tätigkeiten der Behinderten neugierig mache und die Notwendigkeit von Einzelunterricht verdeutliche. Problematisch war für G.Tuchtenhagen Christel Manske, weil sie der Kamera auswich.

Praktische Daten:

Das Drehverhältnis war zunächst 1:12, später 1:6. Da das Material so umfangreich war, zerlegte sie es zu drei Filmen.