Film

Wir wollen auch leben
von Mehrangis Montazami-Dabui
DE 1978 | 72 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 2
1978

Diskussion

Protokoll

Zuschauer: Für wen ist der Film gedreht?
Filmemacherin: Der Film ist für die Öffentlichkeit. Viele haben keine Ahnung. Z. B. wissen viele nicht, ob die Jugendlichen einen Schulabschluß haben. In Frankfurt bei einer Vorführung hat eine alte Frau gesagt, sie habe nicht gewußt, daß die Jugendlichen ausgewiesen werden können, wenn sie irgend was gemacht haben (mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind).
Ein türkischer Jugendlicher: Die türkischen Faschisten versuchen, die arbeitslosen Jugendlichen zu organisieren. Sie bieten Geld, und sie versprechen eine bessere Zukunft. Und wie wir im Film gesehen haben: das größte Problem ist das Taschengeld. Und deshalb versuchen die Faschisten, das Lumpenproletariat zu organisieren.
Ein Beispiel aus Duisburg.
In einem Stadtteil haben die Faschisten – die Grauen Wölfe – ein Büro. Dieser Verein hat systematisch versucht, die jugendlichen Arbeitslosen bei uns im Stadtteil anzuwerben. Das geschah u.a. dadurch, wie ein Jugendlicher erzählte, die haben mir vorgeschlagen, wenn ich längere Zeit dort arbeite, dann bekomme ich einen Opel Manta und mein Kollege auch. Das sind Methoden, die es dieser Organisation möglich machen, die schlechte Lage der Jugendlichen auszunutzen, und sie in ihre Vereine hineinzuziehen. Wenn sie einmal in einem solchen Verein drin sind, dann ist es ihnen schwer möglich, auch wenn sie erkannt haben, daß die Ziele nicht die richtigen sind, wieder herauszukommen, denn sie werden mit Erpressung und mit Morddrohungen – auch bei uns im Stadtteil hier in Duisburg – dazu verpflichtet, weiterhin an diesem Verein teilzunehmen.
Zuschauer: Der Film zeigt mir zu wenig die Hintergründe. Man hätte mehr auf die. Geschichte eingehen müssen.
Zuschauer: Es geht meines Erachtens in dem Film – und generell in der Problematik ausländischer Jugendlicher – nicht darum, warum die vor 10 Jahren gekommen sind, sondern daß heute 4 Mill. – und davon die Hälfte Jugendliche – hier leben. Das ist der erste Punkt. Die sind da, und darum hat man dafür zu sorgen, daß ihre Diskriminierung abgebaut wird und daß sie menschenwürdig behandelt werden.
Der zweite Punkt, den ich sehr gut finde in dem Film, ist, daß er diese jungen Leute zu Wort kommen läßt und daß er das Ausmaß des alltäglichen Skandals, der in Deutschland geschieht, deutlich macht. In dem Punkt knüpft meine Frage an:
Warum geht er so höflich mit den Verantwortlichen um? Das ist mir schleierhaft. Dieser Sozialarbeiter aus Moabit, der weiß, was in diesem Knast gespielt wird, der müßte Anzeige machen, der müßte gegen diese alltäglichen Prügeleien, unter denen die ausländischen Jugendlichen besonders zu leiden haben – das weiß ich aus München, das wird in Berlin und in anderen Städten auch so sein – der müßte noch mehr dagegen machen. Stattdessen schwafelt er mehr oder weniger theoretisch. Warum haben Sie denn nicht diesen Widerspruch deutlich gemacht?
Filmemacherin: Der Sozialarbeiter war der einzige, mit dem man reden konnte. Er hat sofort gesagt, das tut mir unheimlich weh. wenn ich den ganzen Tag die Jugendlichen in der Zelle sehe. Sie haben kein Radio. keine Zeitschriften, sie sitzen nur alleine in der Zelle und gehen jeden Tag nur eine halbe Stunde raus. Und danach habe ich ihm gesagt, ob er bereit ist, ein Interview zu geben. Und als ich die Dreherlaubnis bekommen habe, dann war immer ein Beamter dabei und hat aufgepaßt. Ich habe 300 m gedreht. Ich habe immer gedacht, jetzt kommt er und sagt, was wichtig ist. Man sieht es auch, er will etwas sagen, aber trotzdem sagt er nichts. Und dann habe ich gesagt, okay, jetzt gehen wir. Als die Kamera aus war, habe ich ihm gesagt, aber vorher hast du es anders erzählt. Ja, sagte er: willst du mich brotlos machen?
Zuschauer: Ich will den Film verteidigen gegenüber denen, die sagen, das und das müßte noch rein. Man sollte einen anderen Nutzwert in dem Film sehen als nur einen aufklärerischen Wert. Der Film geht meiner Meinung nach sehr gut auf die Lage der ausländischen Jugendlichen in der BRD ein, und der Wert, den er für mich hat, ist, daß er mir hilft, selber etwas für dieses Problem zu tun. Da ich jetzt besser Bescheid weiß und weiß, wie man eventuell etwas für die Lösung dieses Problems tun könnte. Ich meine, er ist insofern ein Film, der sich für Gruppen eignen würde, die sich intensiver mit dem Problem beschäftigen wollen, und nicht für Gruppen, die dem Problem generell feindlich gegenüberstehen.
Zuschauer: Wird der Film im Fernsehen gesendet?
Filmemacherin. Der SFB hat den Film abgelehnt mit der Begründung, er sei zu einseitig. Beim WDR hat der Redakteur gesagt, ich müßte einen Brief an den Senator schreiben, dann habe ich gesagt: wollen sie eine Erlaubnis haben? Der zweite Redakteur sagte: warum nehmen die türkischen Frauen keine Pille!
Türke: Ich habe im Fernsehen gesehen einige Filme über Ausländer, die waren sehr ausländerfeindlich! Da wurden besonders Türken sehr brutal dargestellt!
Zuschauer: Ich könnte mir eine kleine Möglichkeit vorstellen, um ans Fernsehen zu gelangen, etwas dadurch, daß die organisierten Ausländer, z.B. der türkische Arbeiterverein im Namen seiner Mitglieder, das Fernsehen, den WDR, bitten, über die Situation aufzuklären und den Film zu zeigen. Das wäre etwas, was wir auch unterstützen könnten vom Forum her. Wir haben am Sonntagnachmittag noch eine Veranstaltung, wo die Arbeitskreise nochmal ihre Ergebnisse veröffentlichen und wo wir nochmal zusammenkommen. Da könnte man vielleicht noch eine kurze Resolution verabschieden oder man könnte diesen Wunsch an die richtige Adresse dirigieren.
Zuschauer: Ich möchte etwas Grundsätzliches sagen zu der Problematik, über Gastarbeiter, überhaupt über Randgruppen einen Dokumentarfilm zu machen. Ich habe-nun leider den ersten Film aus dieser Reihe nicht gesehen. Ich habe in diesem Film auch einiges vermißt,und mir war er an manchen Stellen etwas zu langatmig, und da hätte man einiges einbauen können im Hinblick auf eine Verdeutlichung der Problematik, etwa die verblüffenden Parallelen zwischen ausländischen und deutschen jugendlichen Arbeitslosen. Die Konsequenzen der Arbeitslosigkeit, die Folgen, die da auftreten, sind vielfach dieselben: zunehmende Jugendkriminalität oder Abrutschen in politische Gruppe oder Ähnliches. Für mich war der Film zu deskriptiv. Einmal waren mir die Ursachen zu wenig deutlich und zweitens die Folgen, die sich aus der momentanen Situation ergeben können. Man macht es sich zu einfach, wenn man sagt, die Gastarbeiter sind von den Unternehmern angefordert worden, jetzt muß die Gesellschaft damit fertig werden. Sicherlich waren die Unternehmer diejenigen, die ohne Verantwortlichkeit für die sozialen Folgen Gastarbeiter eingestellt haben, aber den Deutschen ist nicht mehr bewußt, wie es zu dem Problem Gastarbeiter gekommen ist!
Man muß die Wurzeln des ganzen Problems wieder aufdecken, weil die verschüttet worden sind!
Ein Dokumentarfilm hat auch Soziologisches zu erfassen.
Zuschauer: Mich wundert es, daß immer noch über dieses Problem diskutiert wird, was vor zehn Jahren war. Das ist natürlich legitim, wenn man in den Behörden und Ausschüssen diskutiert, und wenn man analysieren will, wie es zur heutigen Situation gekommen ist und vor allen Dingen zu der Skrupellosigkeit, die mittlerweile in den Behörden herrscht. Aber gerade die Tatsache, daß man etwas in die Soziologie abschiebt und in die Geschichtsanalyse abschiebt, hat eine ganz große Gefahr, sicher nicht für unseren Gewerkschafter hier, aber für die Behörden. Ich merke das als Anwalt permanent. Die Jugendlichen werden von den Ausländerbehörden so systematisch diskriminiert, das fängt mit der Polizei an, das fängt damit an, daß man bei Ausländern ein Verhalten kriminalisiert, das bei deutschen Jugendlichen noch verständnisvoll unter Jugendsünden rangiert. Daß Ausländer keine Bewährung kriegen, wenn Deutsche noch Bewährung kriegen, das ist eine Klassenjustiz in der Klassenjustiz noch. Das ist die Praxis. Dann ist es beschämend, wenn man ständig von Behördenvertretern hört, ja, uns hat man hier ein Problem aufgebürdet, wir sollen mit diesem Problem fertig werden. Wir als Ausländerbehörde sind verpflichtet, die Leute rauszuschmeißen, eigentlich müßte das die Industrie bezahlen. Und dann wird eine Diskussion geführt in den Behörden, die hier unbewußt weitergeführt wird, nämlich eine Art Alibidiskussion. Man diskutiert das Problem weg, in dem man es anderen aufbürdet, die es nicht mehr haben. Aber die Realität in der Gegenwart ist die, daß die gesamte Gesellschaft die Verantwortung hat und daß der Skandal, der alltägliche Skandal, der jeden Tag passiert, überhaupt noch nicht im Bewußtsein der Deutschen ist. Und dazu ist dieser Film enorm wichtig, weil er deutlich macht, wie differenziert und wie klar und wie sympathisch der Straffällige, rauschgiftsüchtige Ausländer seine Situation schildert. Man hat den Eindruck, daß er der sensibelste und humanste unter diesen Leuten ist. Der hat sehr viel mehr Einsicht in seine Misere, in der er lebt, und in das Unrecht, das täglich gemacht wird, als die anderen. Und das ist die große Leistung in diesem Film, und ich bin froh, daß die jugendlichen Ausländer so viel Gelegenheit hatten zu reden.