Film

Konfrontation mit dem alltäglichen Unrecht
von Hans Peter Meier

Screening
Duisburger Filmwoche 2
1978

Diskussion

Protokoll

Zuschauer: Was haben die Betroffenen getan, um diese Verurteilung zu verhindern?
H.-P.Meier: Ich weiß nicht, ob Sie mal im Gericht waren, sie können jeden Tag reingehen und kämpfen für etwas.
Fragen Sie einmal einen Betriebsrat oder einen Arbeiter, wie er im Einzelfall dafür kämpfen soll, daß solch ein Urteil nicht ergeht! Dem wird man sagen: das Urteil ist formal korrekt nach unserem Strafgesetzbuch. Was nicht korrekt ist, aber Alltag ist, das ist die Sprache aus Vorurteilen und das systematische Mißverstehen, wenn jemand eine andere Sprache als z.B. der Richter spricht. Das ist Alltag, und dieser Fall ist sehr exemplarisch. Ein Fall, der von der Methode her jeden Tag passiert.
Zuschauer: Wie war Ihr Verhältnis zu den Jugendlichen – das waren doch Jugendliche von der Straße?
H.-P. Meier: Ich bin in München Rechtsanwalt und mache sehr viele Jugendstrafsachen. Die Jugendlichen aus dem Film kenne ich als Anwalt. Es war ein sehr gutes Vertrauensverhältnis. Ich habe denen die Geschichte erzählt. Dabei hat sich ergeben, daß die Jugendlichen vor Gericht fast nicht reden, so wie der Marcel,oder danebenliegen. Aber in Wirklichkeit können sie sehr gut argumentieren und sehr plastisch ihre eigene Situation und ihre Kritik schildern.
Zuschauer: Wie war der Kontakt zu der Bevölkerung während der Dreharbeiten an den Originalschauplätzen?
H.-P. Meier: Ich habe den Film nach den Akten zunächst recherchiert und alle Beteiligten, die damals beim Marcel eine Rolle gespielt haben, die waren immer noch betroffen von dem Fall und haben gesagt. Das ist klar, daß wir da mitmachen. Das muß gesagt werden, was da gelaufen ist. Das ist ein Skandal, und die Leute verstehen das nicht.
Zuschauer: Ich bin kein Filmer, und ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, wie man Leute für so einen Film gewinnt und wie Leute, die sonst in dem normalen Lebenszusammenhang stehen, sich so spielen, wie sie es selbst machen würden!
H.-P. Meier: Ich glaube, daß man Filme machen sollte mit Betroffenen und gemeinsam mit Betroffenen, indem man sie vorher überzeugt oder sich überzeugen läßt und indem man sich vorher über das Thema verständigt.
Film ist nicht nur etwas, was man produziert und dann auf der Leinwand verkauft an die Leute, die davor sitzen, sondern es ist auch etwas, wo emotional viel passiert, wo Erkenntnisarbeit geleistet wird. Wii haben den Film gedreht, da waren die Jugendlichen eigentlich immer dabei.
Dann kamen sie sehr viel in den Schneideraum. Er war immer offen für die Jugendlichen und für alle, die mitgemacht hatten. Dann sind wir mit etwa 5 Stunden Rohschnitt in das Freizeitheim gegangen, in dem wir gedreht hatten, und haben bis nachts um 4 Uhr über den Rohschnitt geredet. Nach 4 Stunden Ansehen, die sie durchgehalten haben, ist die Maschine kaputtgegangen, und dann kamen sie mit in den Schneideraum, und dort haben wir das Material zuende angeschaut. Wir haben dann den Film zu Ende geschnitten.
Die Dialoge wurden auf weite Strecken hin improvisiert, sonst waren die Stichworte vorgegeben und mit relativ viel Material gedreht. Manche Dialoge waren auch vorgegeben. Zum Beispiel die Kripobeamten, die mußten manches auswendig lernen, aber die haben das in der Weise gemacht, daß ich ihnen sehr viel Polizeiprotokolle zum Lesen gegeben habe.
Und das hat die unheimlich angesteckt. Die sind so auf der Sprache draufgewesen! Bestimmte Dialoge wie: ‚ich hab auf bayrisch gredt, und der hats auf hochdeutsch übersetzt’. Das sind Dialoge, die ich oft gehört habe und die ich vorgegeben habe. Aber nicht so: ‚an der Stelle sagst du das oder das’, sondern ‚wenn dir nichts anderes einfällt und der dich dauernd fragt, dann sagst du eben das…’
Der Beisitzer des Gerichts war ein Rechtsanwalt, da den Dienst quittiert hatte. Der Vorsitzende des Gerichts war ein Rechtsanwalt und Münchener CSU-Mitglied und Bezirksratsvorsitzender, der die Richterausbildung aus der Sicht der Anwälte hält und einen der Bankräuber verteidigt hat (in dem Prozeß, nach dem das Buch des Films geschrieben wurde). Ein konservativer, ganz mutiger Mann, denn so wie er es gespielt hat, hat er sich mit seiner Rolle nicht identifiziert, sondern hat das als Kritik gemeint an der täglichen Praxis. Kritik gegen einen Justizapparat, in dem mit einer Sprache im Namen des Volkes gerichtet wird, die eben nicht die Sprache des Volkes ist.
Die Juristen waren sämtlich berufsmäßige Juristen, die Journalisten waren Journalisten, die Leute, die in der Zelle saßen, die waren vorher schon mal in der Zelle gesessen und haben den Kaffee so gewärmt, wie sie ihn damals gewärmt haben.
H-P. Meier In dem Film werden Fälle gezeigt, die die Jugendlichen selbst erlebt haben. Z. B. der Barhocker-„Raub” (aus Übermut nehmen Jugendliche angetrunken einen Barhocker in eine andere Kneipe mit, die Wirtin sagt ihnen: bringt ihn wieder zurück). Der hat stattgefunden, und dafür wurden 6 oder 8 Beteiligte mit etlichen Wochen Dauerarrest bestraft. Für solche Vorgänge werden „auffällige” Jugendliche vor Gericht gebracht.
Die Darstellung solcher Vorgänge, nicht herausgelöst aus dem gesellschaftlichen Umfeld, ermöglichen es dem Zuschauer – und hier vor allem dem Jugendlichen – rational zu begreifen, welche Umstände zu diesen scheinbar absurden Urteilen führen.
Zuschauer: Wie haben die Jugendlichen auf den Film reagiert?
H.-P. Meier: Der Film ist permanent unterwegs in Jugendheimen, Kommunalen Kinos.
Die Jugendlichen im bayerischen Bereich, die mit der Sprache keine Schwierigkeit haben, für die ist es ein Erfolgserlebnis, daß jemand in ihrer Sprache z. B. besser argumentieren kann als ein Sozialarbeiter. Da sagt im Film ein Sozialarbeiter: ‚Polizisten sind auch bloß Menschen’, der Jugendliche sagt: ja, aber er vertritt das Gesetz, das ist der Unterschied’.
Oder daß die professionelle Fürsorge so hilflos ist in diesem System – das reizt die Jugendlichen zu unheimlichem Lachen oder zu unheimlichem Beifall.
Oder diese Tabuverletzung: daß da ein Blaulicht abgeschraubt wird, das ist für sie eine große Gaudi, weil sie genau wissen, normal sind das 4 Wochen Dauerarrest.
Der Film hat bei offiziellen Verleihstellen Anerkennung gefunden.
Das Deutsche Jugendfilminstitut hat den Film angefordert, die Landesbildstellen haben ihn als besonders „jugendgeeignet” empfohlen, weil er mit Jugendlichen arbeitet, die Goetheinstitute zeigen den Film in Südamerika als deutsches Kulturgut, aber im ZDF wurde der Film 4 Tage vor der Sendung abgesetzt.
Der Film wurde co-produziert beim Kleinen Fernsehspiel des ZDF. H.-P. Meier über seine Erfahrungen mit dem ZDF, der Zensur und den Produktionsbedingungen: Ich bin damals, als ich die Geschichte (den Prozeß) erlebt habe, zum Autorenverlag gelaufen und zum Fernsehen und sagte, das sei ein Justizskandal. Zwar ein kleiner Skandal von einem normalen Jugendlichen, keine große Aktion, aber man müßte was machen. Und die fragen dann: hat er sich schon umgebracht? Was ist spektakulär daran?Das war die Reaktion. Die gleiche Reaktion habe ich überall erlebt, wo ich damals hingegangen bin. Ich war beim „Großen Fernsehspiel”. Dort gab es einen Redakteur, der sagte, das ist eine starke Geschichte, müssen wir machen. ‚Wie der Junge gegen diese anonyme Übermacht kämpft und im Knast landet! Am Schluß müßte er sich oder den Wärter noch umbringen…’
Da habe ich gemerkt, wie Fälle kommerzialisiert werden, auch beim Fernsehen. Und wie dann in einem Film überhaupt nicht mehr die Realität erkennbar ist, die der Film eigentlich meint.
Die Erfahrungen der Zuschauer aus dieser Diskussion ging wieder in die Diskussionen in den Arbeitskreisen ein. Diskussionsgegenstand im Arbeitskreis Gewerkschaft und Film: die Notwendig realistischer Darstellung:
„Da ist ein Realismus zu Wort gekommen, der dem Menschen gerechter wird, der ihm Zeit läßt. Ich fand nach dem gestrigen Film begriff man das ganze Geschehen viel besser, begriff diesen einzelnen Angeklagten in seiner Geschichte oder auch Jugendgruppen, die vielleicht so etwas wie isolierte Gruppen geworden sind, die man sonst gar nicht recht versteht, mit denen man sich auch sprachlich nicht so gut verständigen kann. Und da hat der Film einiges geleistet”.