2018 war das Motto der Duisburger Filmwoche HANDELN. Gemeint war, dass Filme beim Zeigen und Zuschauer:innen beim Schauen und Sprechen handeln – dass all das Akte sind, die etwas in der Welt verändern können.
Das Motto hatte allerdings auch eine unfreiwillige Ironie. Denn das Jahr 2018 war nicht unbedingt eines des Handelns. Die Filmwoche begann mit der Gewissheit, dass es Werner Ruzickas letzte Ausgabe als Festivalleiter sein würde, aber ohne eine Idee, wie es weitergehen könnte. Viele im Festivalteam fühlten sich haltlos.
Wenn die Filmwoche sich sieben Jahre später das Motto HALT gibt, bedeutet das nicht, dass wir nun in der Sicherheit städtischer Strukturen zur Ruhe gekommen wären – oder keinen kulturpolitischen Handlungsbedarf mehr sähen. Im Gegenteil. Ich kann inzwischen aus einer recht sicheren Position davon sprechen, dass Handeln und Halt zusammengehören. Dass es Halt braucht, um handeln zu können – und dass Handeln Halt stiftet.
Diese Beziehung lässt sich im Kino besonders gut beobachten. Wenn Sie im Kinosessel sitzen, lehnen Sie sich zurück. Sie halten inne, finden Rückhalt im Dunkel des Saals und geben sich der Illusion der Projektion hin. Sobald Sie auf der Leinwand Bilder sehen, die ihnen die Welt auf eine neue, ungewohnte Weise zeigen, merken Sie, dass ihre Aufmerksamkeit aktiviert wird. Dass sie handelt, weil Sie die Verhältnisse in Bildern sehen. Nicht als etwas, das einfach gegeben ist, sondern als etwas, das in Form gebracht werden kann. In Bildern, zwischen denen Platz ist für Zuschauende.
Sie werden in dieser Woche Filme sehen, die Sie in genau diese Dynamik aus Passivität und Aktivität einladen, die dem Kino eigen ist; Filme, die wie Widerhaken sind in den Wirklichkeiten, die sie zeigen; die Formen finden, Sie zu aktivieren und zu involvieren. Formen, die anders sind als die parteilichen, oberflächlichen und ideologischen Bilder, die unseren Alltag bestimmen. So aktuell ihre Themen auch sind: Es geht den Filmen der kommenden Woche darum, uns sehen zu lassen – nicht darum, die Dinge endlich beim Namen zu nennen. Denn um Namensschilder zu lesen, braucht man nicht ins Kino zu gehen – zum Wahrnehmen schon.
Diese Haltung ist keine defensive, sondern eine offensiv einbeziehende. Sie werden von den Dokumentarfilmen im Kino gemeint sein. Weil die Filme Sie in ihre Konstruktion einer Wirklichkeit einbeziehen, diese oft sogar zur Disposition stellen. Die Dinge stehen nicht fest. Wir können schauend und denkend mitmachen.
Orte zu stiften, an denen eine solche Offenheit Platz hat, wird aktuell nicht einfacher. Selbst, wenn – wie vergangene Woche – hin und wieder ein Tropfen auf den heißen Stein fällt. Insbesondere die frei organisierte Kultur ist von Kürzungen bedroht – als ob es bei ihr etwas zu holen gäbe. Dabei erzählt der Status solcher Orte etwas über Halt und Handeln: Über den Wert dessen, sich involviert zu fühlen.
Dieser Wert ist in Gefahr, wenn kulturelle Räume auf ihre Verzichtbarkeit reduziert werden. Sie alle kennen das Mantra, dass bei der Kultur immer als erstes gekürzt wird. Das erscheint alternativlos. Es gibt Wichtigeres. Und das kann man so sehen. Der entscheidende Punkt ist aber, dass man es auch anders sehen kann. Ich glaube, dass die vermeintliche Selbstverständlichkeit, dass das eben so sein müsse, zerstörerisch wirkt. Es ist eine selbsterfüllende Prophezeiung, die persönlichen und strukturellen Halt dort eingeschränkt, wo er sowieso kaum gegeben ist.
Gestaltungsräume erscheinen durch das Mantra der Kulturkürzung, das vielmehr ein Glaubenssatz ist, gleich doppelt eingeschränkt: Auf der politischen Ebene wirkt es so, als habe man es mit unvermeidlichen Verfügungen und Sachzwängen zu tun. Als sei Handeln gar keine Option. Dass die jüngsten Kürzungspläne ausgerechnet in Konsequenz einer Steuerschätzung verhindert wurden, ist deshalb kein Grund zum Aufatmen. Auf der kulturellen Ebene werden so reale Gestaltungsräume künstlerisch und in ihrer sozialen Reichweite eingeschränkt. Für beide Ebenen gilt: Wenn Entscheidungen als Sachzwänge erscheinen, wird Gestaltung zu Verwaltung.
Kulturelle Akteure und ihr Publikum bekommen so den Eindruck, nur noch passive Beobachter der Wirklichkeit zu werden, statt eingeladen zu sein, an ihrer Konstruktion mitzuarbeiten. Verhältnissen, die keinen Halt mehr bieten, nur noch stumm gegenüberzustehen. Deshalb sind finanzielle Kürzungen soziale Verknappungen. Sie lassen etwas verschwinden, das nicht zu beziffern ist: das Gefühl, Teil von etwas zu sein.
Wenn man in einem Dokumentarfilm nicht mehr das Gefühl hat, gemeint zu sein, kann man einen anderen gucken. Wenn man in einer Gesellschaft nicht das Gefühl hat, gemeint zu sein, hat man weniger Optionen.
Und wenn die Handlungsoptionen weniger werden, besteht die Gefahr, dass sich Menschen vom gemeinsamen Arbeiten an einer gemeinsamen Wirklichkeit abwenden. Für sie steht eine trügerische Alternative im Raum. Die, sich von der ganzen Idee des Gemeinsamen zu verabschieden. Im Zweifel zugunsten der Idee des Uniformen, in der manche gleich und die vermeintlich anderen wertlos sind. Die vermeintliche Alternative Schuldige zu suchen, statt sich zu bemühen, etwas zu verbessern. Zu versuchen, Kapital aus der Angst zu schlagen, nicht mehr dazuzugehören. Es ist das Angebot, das Handeln aufzugeben und es sich einfach zu machen. Dieses Angebot steht sehr konkret im Raum. In Duisburg stand ihm zuletzt so wenig entgegen, dass sich in zwei Wahlgängen jeweils 33.000 Leute dazu entschieden haben, es zu wählen.
Dagegen kann man keine Filme machen, die die Dinge beim Namen nennen. Was man stattdessen tun kann, ist Gestaltungsräume öffnen: Um über das gemeinsame Wahrnehmen und Gestalten von Wirklichkeiten in Austausch zu kommen – über Halt und Handeln. Der Dokumentarfilm eignet sich dafür besonders: weil etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat. Und, noch wichtiger: weil seine Wirklichkeit die Bilder sind. Weil seine Form zählt. Die Filme der kommenden Festivalwoche erlauben uns, dass wir uns ganz bewusst die Freiheit nehmen, die Verhältnisse in Bildern wahrzunehmen und zu reflektieren. In Bildern, die ihre Zuschauer:innen involvieren, die dazu auffordern, schauend und redend mitzumachen.
Die Duisburger Filmwoche will ein Ort sein, der die besten Eigenschaften seiner Filme, aufnimmt. Der Gegenüber sucht. Der den Halt stiftet, um frei wahrnehmen und sprechen zu können. Und der das Zeigen, Schauen und Sprechen als soziale Handlung versteht. Ich lade Sie ein: Machen sie mit!