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NICHTS ZU LERNEN. Dokumentarfilme und Filmbildung

Duisburger Filmwoche 47
6.11.2023

Podium: Michael Baute, Alex Gerbaulet, Natascha Frankenberg, Katja Lell, Bozena Leschczyk, Colleen Püschel, Aycha Riffi, Karoline Rößler, Tristan Sindelgruber
Einführung: Alexander Scholz und Tanja Tlatlik
Protokoll: Ronny Günl

Mit NICHTS ZU LERNEN. Dokumentarfilme und Filmbildung nehmen die Partnerfestivals die Praxis der Vermittlung – in und von Filmen – in den Blick und gehen den Potenzialen des künstlerischen Dokumentarfilms für den Bildungskontext nach. Diese bestehen aus Sicht der Festivals darin, formatierten Angeboten der Wissensvermittlung eine ästhetische Erfahrung und eine unformatierte Begegnung mit Wirklichkeiten entgegenzusetzen. Deshalb möchten die Filmwoche und doxs! Vermittler:innen, Filmemacher:innen und Filmwissenschaftler:innen in einen Dialog darüber bringen, welche Praktiken der Vermittlung Dokumentarfilme selbst entwerfen und welche strukturellen Herausforderungen für ihre Vermittlung bestehen.

Die Veranstaltung findet in Kooperation mit dem dfi – Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW, dem Creative Europe Desk NRW und der Grimme Akademie statt.

Protokoll

Mit den Worten John Griersons erinnert Alexander Scholz bei der Begrüßung an die aufklärerische Idee des Dokumentarfilms gegenüber der Wirklichkeit. Vermittlung mit dieser könne aber nicht von allein passieren. Viel mehr müsste ein Ansatz gefunden werden, der sich formatierter Bildung widersetzt, indem er eingeübten Bildpraktiken und den marktgerechten, instrumentellen Blick infrage stellt. So sei der Dokumentarfilm im Bildungskontext als Grenzgänger charakterisiert. Dass der Film es erlaube, uns zu bilden, läge insofern nicht darin seine Formen zu erlernen, sondern mit den Formen zu lernen.

So berichtet der einführende Impulsvortrag von Michael Baute von Seminaren, in denen anhand von Videoessays der Umgang mit und Austausch über filmischen Formen erlernt wird. Baute schickt die Frage voraus, inwieweit sich hier spezifisch vom Dokumentarfilm sprechen ließe. Er unterscheide in seinen Seminaren nicht zwischen fiktionalen und dokumentarischen Formen, auch sei ihm nicht wichtig, den Bezugspunkt der Betrachtung – ob Technik oder Narration – vorauszusetzen. Eher zielt er darauf, die Prozesse der eigenen ästhetischen Wahrnehmung zu untersuchen, zu reflektieren und zu übersetzen. Erinnernd an Bertolt Brecht, versuchen diese Seminare, aus der Rezeption eine Produktion werden zu lassen. Auf dieser Grundlage ergäben sich die pragmatischen Einschränkungen, dass sich erstens das gesamte Seminar nur mit einem Film beschäftigt, zweitens Sprache mit dem Film in Verbindung treten muss und drittens die Arbeit in einer Gruppe stattfindet.

Wahrnehmungsanalyse könne indes nur durch Wiederholungen entstehen. Dahingehend käme es nämlich darauf an, über den allgegenwärtigen Redundanzverdacht hinauszugehen und auf Variationen sowie Rhythmisierungen zu achten. An vielen Beispielen in der Filmgeschichte mache sich dieser Wiederholungsvorgang bemerkbar. Es handele sich nicht um Nachahmung oder Dechiffrierung, sondern immer um den Versuch ein eigenes Verhältnis, einen eigenen sprachlichen Ausdruck zu den Formen zu finden. Baute verdichtet hier die methodische Betrachtung der Filmgeschichte mit seiner Anleitung zur Arbeit im Seminar.

Auch wenn nicht alle Ausführungen, die er unter seinen Arbeitsbegriffen »Wiederholung, Synchronizität und Dialogizität« subsummiert, deutlich werden, prononciert er dennoch die notwendige Offenheit. Damit könnte auch die Neugier oder der Lustgewinn bei der Auseinandersetzung mit Film gemeint sein, was letztlich ein grundlegendes Bildungsmotiv darstellt, wie sich auch in der Rohfassung einer studentischen Arbeit über Robert Gardners „Forest of Bliss“ zeigt. Auf die Frage, ob diese Arbeit nicht die Problematisierung durch Interpretation verstelle, hält Baute den suchenden Charakter des Videos hoch. Wo dieser Prozess endet, wurde nur ausweichend beantwortet: Es gäbe nur eine Deadline, die zwangsläufig so Offenheit bewahre.

Das folgende englischsprachige Panel mit Natascha Frankenberg, Katja Lell, Filmemacher:in Nafis Fathollahzadeh, mit dem Film „Xabûr“ auch im Rahmen der Filmwoche vertreten, und der Moderatorin Cathrin Ernst stellte sich dann die Frage, welche Rolle Filmbildung innerhalb hegemonialer Rezeptionsformen einnimmt. Im Gegensatz zum Vortrag von Michael Baute richtet sich diese Perspektive auf die Bedingungen des Lernens und des beinhalteten (in der Regel unhinterfragten) Wissens.

Interessanterweise gibt es kaum eine adäquate Übersetzung für das Wort »unlearning«; keineswegs konnotationslos kommen dabei Worte wie »verlernen«, »neulernen« aber auch »umschulen« in den Sinn. Laut Lell wäre »unlearning« im Film eine Verschiebung der Perspektive, die den Blick auf Erklärbares, aber ebenso Nicht-Erklärbares richte. An Beispielen aus der eigenen Arbeit führt Fathollahzadeh dazu aus, dass »unlearning«, anlehnend an die Arbeiten von Ariella Azoulay, immer auch die Machtfrage innerhalb einer Gesellschaft stellt.

Es folgt eine Diskussion der verwendeten filmischen Mittel, die in erster Linie Irritationen hervorriefen, dabei aber die Teilnehmer:innen des Podiums an das Nicht-Verstehbare, die zerstörten historischen Relikte und den Klang der Vergangenheit erinnerten. Ernst und Lell stellen dann einen Bezug zu Bautes Vortrag her, da auch der Film Wiederholungen durchlaufe. Fathollahzadeh fügt dem hinzu, dass das Erinnern (»remembering«) nur durch permanente Wiederholung stattfinde. Man könnte jedoch Erinnerung auch als plötzliche Eingebung, ausgelöst durch die eigene Wahrnehmung, begreifen, worauf möglicherweise auch Frankenberg mit der Frage nach dem Affekt eingehen wollte, bevor sich die Diskussion ins Publikum öffnete.

Im nachfolgenden Panel wird das Motiv des Nicht-Verstehens wieder aufgegriffen, was sich bei Karoline Rößlers Videoarbeit „Lieber Papa, deine Tochter“ als produktiv herausstelle. Im Sinne der Überladung sollte so der Entstehungsprozess abgebildet und die jugendliche Überforderung einer älteren Generation nahegebracht werden. In anderer Weise versuchte die Filmemacherin Alex Gerbaulet mit dem Film „Sonne unter Tage“ einen Mittelpunkt in der Erzählung zu lokalisieren, von wo sich dann erst ein größerer Zusammenhang elliptisch ertasten ließe. Die Moderation berichtet in Bezug auf diesen Film davon, dass sich bei Jugendlichen ein kritischer Blick allein durch die Irritation, eine sperrige Erzählung in Kombination mit der Überprüfung des eigenen Wissens, aktiviere. Nicht zuletzt könnte das Unverständnis auch ein Initialmoment für die Leidenschaft zum Kino sein.

Wie das ideale Filmgespräch aussehe, lässt sich für Rößler nicht beantworten, denn für sie käme es zu spät. Sie denkt über andere Formen des Dialogs zu einem früheren Zeitpunkt nach und spricht sich für einen aktivistischen Ansatz aus. Gerbaulet hat während ihrer Recherchen damit Erfahrung gemacht, indem ihre Arbeit von Workshops, Vorträgen und generell einem kollektiven Ansatz begleitet ist. Ein ideales Filmgespräch brauche aber einfach nur ausreichend Zeit. Für Tristan Sindelgruber finde das ideale Gespräch im Schneideraum statt, weil man dort um den Film kämpft. Im Kino, wo der »Druck auf die Leinwand« immer größer werde, bleibt dafür leider keine Zeit mehr. Vor allem auch angesichts der Anfragen von Lehrer:innen, die auch lernen müssten, Verantwortung abzugeben, und der Allgegenwart von pädagogisch aufbereitetem Begleitmaterial sei es laut Sindelgruber notwendig, den Druck auf die Jugendlichen zu reduzieren. Mit der Frage, wie man die ästhetische Erfahrung nun vermitteln kann, indem trotzdem formelles Wissen weitergegeben wird, leitet die Diskussion zum letzten Panel der Konferenz über.

Ein grundsätzliches Problem für die Filmvermittlung im Rahmen des »Offenen Ganztags« an Schulen sei es, geeignete Räume und verfügbares Personal zu finden. Darüber hinaus fehle in der Regel die Zeit, da Angebote wie diese nur am Nachmittag stattfinden können. Positiv sei aber, dass dadurch einerseits die Eltern entlastet und andererseits der Spracherwerb erleichtert werde. Wie immer mangelt es in Deutschland aber nicht nur an finanziellen Mittel, sondern es wird zusätzlich durch den Ländergebundenen Bildungsauftrag und das Förderwesen erschwert. Man könnte sich hier die Frage stellen, ob die Bundesrepublik nur in Sachen der Bildung spart oder auch den Film abseits seiner Verwertung geringschätzt.

Für den Schulunterricht gilt der Film als anerkannte Textform. Obwohl im Bildungsplan Film verpflichtend vorgesehen ist, fehlen aber entsprechende Strukturen. So braucht es zudem in der Arbeit mit Schüler:innen immer auch »gesichertes Wissen«. Ein Film allein kann dies nicht erbringen, eher stellt er es infrage. Cathrin Ernst im Publikum macht dazu auf das widerständige Potential der Bildung aufmerksam, sie sähe die Filmbildung außerhalb der Schule auch in Verbindung mit einem sozialen Auftrag. So geht Carmen Beckenbach in ihrer Arbeit vor allem auf die Bedürfnisse der Jugendlichen ein; die Vorlieben seien oft auch überraschend und würden dann gemeinsam befragt werden. Es entwickelt sich daran eine kleinere Diskussion, ob Film für Jugendliche mehr als Blockbuster wäre. Sollten Autoritäten ihre eigenen Impulse dennoch zurückstellen? Und wo liegt der Türöffner zum Kino verborgen?

Das geheimnisvolle, verführerische Moment des Kinos, das auf die Rebellion im Inneren der Heranwachsenden durch Selbsterkenntnis und die Entdeckung des Anderen trifft, gerät hier vielleicht ein wenig in Vergessenheit. Immer wieder drängt sich die Frage nach dem eigenen Initialereignis der Filmerfahrung auf, wie sie schon im vorherigen Panel erwähnt wurde. Man müsse früh beginnen, allerdings stehe auch die Filmvermittlung erst am Anfang – meist geschieht sie autodidaktisch und ohne konkrete Reflexion. Wichtig wäre, erstens die Jugendlichen einzubeziehen und zweitens eine Haltung zum Film zu bewahren. Eine Schülerin von Bozena Leschczyk konstatierte nämlich nach einem Kinobesuch, dass sie zwar nichts verstanden hätte, aber trotzdem wisse, wie wichtig es gewesen war. Nichts verstehen, könnte auch bedeuten, nicht immer alles oder noch nicht. Dies erinnert im Zusammenhang des überkommenen Lehrgestus des Films ein wenig an Harun Farockis Einsicht, dass der Film eher das Medium einer Erfahrung sei, nicht aber sie selbst.

 Foto: Maria Kotylevskaja
Foto: Maria Kotylevskaja