Film

Anqa
von Helin Çelik
AT, ES 2023 | 91 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 47
9.11.2023

Diskussion
Podium: Helin Çelik
Moderation: Therese Koppe
Protokoll: Maxi Braun

Synopse

Draußen segelt ein Drachen im Wind, drinnen rotiert schleppend der Deckenventilator, ein Wasserhahn tropft. Das Innenleben dreier Frauen entfaltet sich im langsamen Fluss der Zeit. In ihren täglichen Routinen Echos einer gewaltvollen Vergangenheit. Bruchstückhaft berichten sie von einem Zuhause, dem sie entflohen sind. Die Außenwelt bleibt sorgfältig hinter Türen und Fenstern verschlossen. Ihre Augen unter schlaflosen Lidern beharrt eine der Frauen: „Ich bin nicht das, was übriggeblieben ist, ich existiere.”

Protokoll

Schwere Kissen und Decken, ein dunkler Flur. Opake Tücher schirmen das Licht ab, nur soviel, dass der Staub darin flimmern kann. Raue Haut an Handflächen, die sich wie Sandpapier aneinander reiben. Erschöpfe Gesichter in extremen Close-Ups. Befinden wir uns in einer Wohnung oder sind es mehrere? Warum fühlt es sich so an, als könne jede Sekunde etwas Schreckliches passieren, als krieche der Horror von draußen hinein in einen Safe Space, der sich trotz der warmen Farben alles andere als sicher anfühlt? Wer sind diese drei Frauen und was ist ihnen widerfahren?

Die erste Viertelstunde von Helin Çeliks Langfilmdebüt verzichtet auf Dialog, ergießt sich ganz in visueller Poetik und kippt in manchen Einstellungen schon auch in eine hyperästhetisierte Bildsprache. Auf dieses Seherlebnis muss man sich einlassen, denn viel mehr Informationen werden wir im Film nicht über die Frauen erhalten. Weder ihre Namen, noch was sie erleiden mussten. Klar ist nur, ihnen ist unaussprechliche Gewalt durch Männer widerfahren.

Die Filmemacherin ist in Diyarbakır geboren, sie kennt sich im Nahen Osten aus, lebt und arbeitet seit zehn Jahren als interdisziplinäre Künstlerin und Kunsttherapeutin in Wien. Therese Koppe fragt Çelik nach dem künstlerischen Konzept und dem bewussten Vorenthalten von Informationen. „It was important to me to rethink, not to reproduce violence“, erklärt sich Çelik. Poetik ergebe sich für sie gerade durch die Abwesenheit von Information und sie habe ohnehin keinerlei investigativen Ehrgeiz gehabt. Zwar kenne sie alle Details der Verbrechen, im Film offenbare sie davon aber nur Bruchteile. Narrativ und visuell setze sie gerade auf die Fragmentierung der erlittenen Traumata.

Koppe interessiert, wie sich die Filmemacherin an das Projekt und die Frauen herangetastet habe. Çelik berichtet davon, sechs bis sieben Jahre mit jordanischen Behörden gekämpft und nach dem richtigen Team gesucht zu haben. Am Set waren schließlich nur Frauen anwesend. Die Protagonistinnen habe sie in kunsttherapeutischen Sitzungen über einen längeren Zeitraum kennengelernt, in nur zwei Wochen habe sie das Material gedreht. Sie und Bildgestalterin Raquel Fernández Núñez seien dabei nur so nah an die Frauen herangegangen, wie die sie gelassen hätten, aber auch der enge Raum spiegele sich in den zahlreichen Nahaufnahmen.

Çelik antwortet schnell, geschliffen und bestimmt. Kritische Anmerkungen gibt es kaum. Eine Frau stört sich aber doch am Sounddesign und der verwendeten Musik, die ihr zu suggestiv sei und sie an konventionelle Horrorfilme erinnert habe. Çelik erklärt, sie habe mit der Musik eine bestimmte Stimmung erzeugen und der Montage einen Rhythmus geben wollen. Eine andere fragt nach der Protagonistin, die im Film von der Ermordung ihrer Kinder spräche, nennt sie „Täterin“. Hier wird Çelik harsch: Keine der Frauen sei ein Opfer, geschweige denn eine Täterin. Die Kinder seien am Leben. Die Mutter im Film glaube nur manchmal, dass ihre Töchter allein im Tod vor dem geschützt seien, was ihr selbst wiederfahren ist. Ein wenig schwer verständlich ist dieses und andere Details bei der ersten Betrachtung des Films tatsächlich. Çelik ergänzt zum Beispiel weiter, dass in Jordanien Frauen häufig in Gefängnissen in Schutzhaft genommen werden, um sie vor der Bedrohung durch patriarchale Gewalt zu schützen. Sie erklärt diese Praxis damit, dass es leichter sei, Frauen zu inhaftieren, als all die Männer einzusperren, die sie bedrohen. Dieser Kontext hilft, sowohl die Geschichte der Frauen als auch das narrative wie bildgestalterische Konzept besser zu verstehen. Dem Film an sich gelingt das nicht immer. Ihrem Anspruch, Gewalt nicht durch deren Darstellung zu reproduzieren, wird Çelik so zu einhundert Prozent gerecht. Durch das Festhalten an der visuellen Poetik, die vieles vage lässt, bleibt aber einiges unklar. Letztlich auch die Frage, ob den Frauen so wirklich eine eigene Stimme gegeben wird. Am Ende hinterfragt Koppe genau dies, indem sie die Form des Widerstands hinterfragt, die der Film transportiere. Çelik geht darauf kaum ein. Für sie sind alle Frauen im Film Überlebende. Ihr Widerstand bestehe darin, zu existieren, obwohl sie das nicht sollten. Und das sei für sie – anders als für die Anwesenden – eben keine Selbstverständlichkeit.