Doku-Formate sind derzeit das wachstumsstärkste Programmsegment der Streaming-Plattformen. Welche Themen liegen im Trend? Wie sieht die regionale Verteilung aus, wie die Aufteilung zwischen linearem TV und VoD? Welchen Bedarf haben die Auftraggeber? Guy Bisson gibt einen internationalen Überblick, gespeist von kompakter und exklusiver Market Intelligence.
Protokoll
Torsten Zarges begrüßt das Publikum im virtuellen Zoom-Room. In der von ihm konzipierten und moderierten Konferenz „Wie weiter? Erzählerische und journalistische Potentiale der Doku-Serie“ spricht er mit internationalen Expert*innen über den gegenwärtigen Erfolg von dokumentarischen Serien.
Sein erster Gast heißt Guy Bisson und wird aus London zugeschaltet. Bisson eröffnet seinen Vortrag mit einem Blick auf verschiedene Markt-Entwicklungen, die durch die Corona-Pandemie verstärkt wurden. Der staatlich verordnete Lockdown zwang z. B. Kinos zur Schließung und bescherte diversen Streaming-Diensten einen noch größeren Zuwachs. Zudem mussten vor allem Filmproduktionen, die mit großem Personalaufwand, fixen Skripten und starren Zeitplänen operieren, zwischenzeitlich gestoppt oder sogar gänzlich verschoben werden. Letzteres habe dazu geführt, dass für tendenziell flexiblere dokumentarische Produktionen mehr Mittel zur Verfügung gestellt werden konnten. Der Zuwachs von dokumentarischen Inhalten auf Streaming-Plattformen sei in diesem Sinne durch Corona weiter begünstigt worden.
Doku-Formate, das derzeit wachstumsstärkste Programmsegment der Streaming-Plattformen, machen über zehn Prozent aller Eigenproduktionen aus. Einen zentralen Grund hierfür findet Bisson im demographischen Wandel des Zielpublikums. Das einst sehr junge Publikum von Streaming-Diensten werde langsam älter. Und dokumentarische Inhalte seien insbesondere unter den 45- bis 64-jährigen – in Bissons Statistik bereits die älteste Zielgruppe – sehr gefragt.
Dieser Zuwachs sollte jedoch keine falschen Vorstellungen wecken: Die traditionellen TV-Anbieter spielen laut ihm immer noch die mit Abstand größte Rolle in der Produktion und Distribution von dokumentarischen Inhalten. In der globalen Top-15 der Dokumentarfilmproduzenten können von den Streaming-Diensten nur Netflix und Disney+ einen Platz ergattern. Die ungeschlagene Königin dokumentarischer Inhalte bleibt übrigens die britische BBC.
In einem eindrucksvollen Schaubild schlüsselt Bisson die Themenvielfalt der derzeitigen dokumentarischen Produktionen auf. Er unterscheidet 17 verschiedene Genres, von denen „Kunst und Kultur“ (17 %) „Historisches“ (12%) und „Natur und Tiere“ (11%) die beliebtesten seien. Seit dem Lockdown im Frühjahr 2020 hätten auf Streaming-Diensten zudem die dokumentarischen Genres „Medizin“ und „Recht“ stark an Popularität gewonnen. Demgegenüber habe das Interesse an Reise-Formaten nachgelassen.
Trotz des anhaltenden Zuwachses im dokumentarischen Sektor und der Stabilität internationaler Ko-Produktionen beobachtet Bisson eine rückläufige Tendenz beim führenden Streaming-Dienst Netflix. Vor allem weil das Unternehmen mehr alte dokumentarische Inhalte von seiner Plattform entfernt als es neue (zumeist selbst produzierte) hinzufügt – anders als z. B. der Konkurrent Amazon. Einzig dokumentarische Serien sind laut Bisson von diesem Trend nicht betroffen: Ihr Zuwachs ließe sich auch bei Netflix in jeder Hinsicht belegen.
Die dokumentarischen Inhalte von Netflix stammen überwiegend aus den USA (über 75%). Weit abgeschlagen folgt an zweiter Stelle das Produktionsland Großbritannien. Im Hinblick auf Netflix-Eigenproduktionen bilden Dokumentationen mit 14% derzeit tatsächlich das zweithöchste Segment – nur Comedy-Formate hätten hier noch die Nase vorn.
Dass sich das dokumentarische Arbeiten in einem relativ konstanten Wachstum befindet, verdankt sich insgesamt mehr den klassischen TV-Sendern als den Streaming-Diensten. Letztere holen aber auf, verdeutlicht eine abschließende Grafik von Bisson. Vor allem neuere Video-on-Demand-Plattformen (darunter viele in Deutschland noch recht unbekannte Namen wie Crackle, IMDbTV oder Roku) bauen ihr dokumentarisches Angebot derzeit stark aus. Da diese kleinen Anbieter jedoch wenig selbst produzieren, handele es sich bei deren Inhalten zumeist um ältere Produktionen aus dem Archiv. Zum Abschluss seines Vortrags stellt Bisson einige dokumentarische Serien vor, die derzeit produziert werden: z. B. Ink & Paint von Disney+, Fifth Risk“von Netflix, „The Supermodels“ von AppleTV oder 21st Century Women von der BBC. Bei neueren Produktionen liegen politische und historische Themen besonders im Trend.
Zum Auftakt der Diskussion fragt Torsten Zarges nach einer Zukunftsprognose zu dokumentarischem Content auf Streaming-Diensten (insb. im Vergleich zu dramatischen bzw. fiktionalen Inhalten). Bisson vermutet, dass dokumentarische Inhalte zwar weiterhin wachsen, jedoch auch in Zukunft insgesamt eine eher untergeordnete Rolle auf den meisten Streaming-Diensten spielen werden. Auch die Altersentwicklung der dokumentarischen Zielgruppe interessiert Zarges. Wird die Anzahl der älteren Zuschauer_innen (die sich statistisch mehr für dokumentarische Produktionen begeistern können) auf den Streaming-Plattformen weiter zunehmen? Oder ist zu erwarten, dass neue Produktionen mehr auf ein jüngeres Publikum zugeschnitten werden? Bisson antwortet mit einem „Sowohl als auch“: Es gibt mehr dokumentarische Angebote für ein jüngeres Publikum (z. B. im Bereich Musik oder auf dem Streaming-Dienst Disney+), aber ebenso gibt es ein wachsendes älteres Publikum (das sich z. B. eher für historische oder kriminalistische Formate interessiert).
Zarges fragt ferner nach einer Erklärung für den merkwürdig erscheinenden Netflix-Trend, extern produzierte Dokumentationen in höheren Maße aus dem Programm zu entfernen, als neue selbst produzierte Inhalte nachzuliefern. Bisson sieht in diesem Trend eine bewusste Entscheidung und (inhaltsübergreifende) Strategie des Konzerns. Der finanzielle Aspekt dieser Strategie falle jedoch gerade bei extern produzierten Dokumentationen nicht so sehr ins Gewicht, da diese häufig relativ günstig von kleinen, unabhängigen Studios bereitgestellt würden. Eine thematische Ausrichtung des Streaming-Dienstes, die sich schlicht weniger für extern produzierte, dokumentarische Inhalte zu interessieren scheint, ist hier wahrscheinlich nicht von der Hand zu weisen.
Eine im Chat gepostete Frage bezieht sich auf die möglichen langfristigen Folgen der Pandemie für jene Dokumentarfilme, die nicht für das Fernsehen oder für Streaming-Anbieter, sondern für das Kino produziert werden. Bisson geht hier, vielleicht überraschenderweise, erstmal einmal nicht von langfristigen Schäden aus. Insbesondere für das dokumentarische Arbeiten glaubt er an eine Rückkehr ins Kino nach dem Ende der Corona-Krise.
Eine weitere Zuschauerfrage bezieht sich darauf, ob es im dokumentarischen Bereich eher eine Charakter-orientierte oder eine Themen-orientierte Ausrichtung gebe. Bisson mutmaßt, dass die Themen-orientierte Ausrichtung weiterhin stärker sei (wenngleich es aktuell auch populäre Gegenbeispiele gibt, wie z. B. Tiger King).
Ein Chat-Teilnehmer vermutet, dass es aktuell von Seiten der Zuschauenden Ermüdungserscheinungen im Hinblick auf dokumentarische Angebote gebe, die thematisch direkt oder indirekt einen Bezug zur Pandemie herstellen. Bisson bestätigt diese Einschätzung. Im Verlauf der Pandemie sei das Interesse zu „Feelgood“-Inhalten gewechselt, die möglichst wenig mit der aktuellen Lage gemein haben.
Zarges knüpft daran an und möchte mehr zu den dokumentarischen Genres wissen. Bliebe True Crime das „Blockbuster-Genre“ im dokumentarischen Bereich? Welche weiteren Trends lassen sich beobachten? Bisson glaubt zwar nicht, dass der Erfolg von True-Crime so schnell nachlasse, betont jedoch die zunehmende Diversität, die den Markt derzeit auszeichnen würde. Es gebe viele neue wachsende Doku-Genres (darunter etliche, die ein jüngeres Publikum ansprechen). Die klassischen TV-Anbieter zeigen sich von der Streaming-Konkurrenz, so Bisson, noch nicht beeindruckt und halten an ihren etablierten Genres und Formaten weitestgehend fest. Die ganz großen Veränderungen seien nicht zu beobachten. Wachsende Trends gebe es jedoch vor allem bei Inhalten für ein weibliches Publikum und im historischen Bereich.
Eine letzte gepostete Frage möchte wissen, ob es – pandemiebedingt – einen Trend gebe, mehr dokumentarische Inhalte zu produzieren, die auf Entertainment setzen. Bisson glaubt dies eher nicht, da gerade solche Inhalte während des (andauernden bzw. wieder eingesetzten) Lockdowns tendenziell schwieriger zu realisieren seien.
Zarges bedankt sich noch einmal sehr bei Guy Bisson und verabschiedet diesen aus dem virtuellen Raum. Die gezeigte Präsentation und weitere Statistiken können bei Interesse per E-Mail vom Vortragenden angefordert werden.