Film

CHoisir a vingt ans
von Villi Hermann
CH/DZ 2017 | 100 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 41
07.11.2017

Diskussion
Podium: Villi Hermann
Moderation: Till Brockmann
Protokoll: Johannes Frese

Synopse

Die Schweiz ist in den 1950er-Jahren Zufluchtsort für viele französische Pazifisten, die sich weigern, in Nordafrika in einen kolonialen Krieg zu ziehen. Eine sorgfältige Infrastruktur des Willkommens für ein nonkonformistisches Milieu: Zuhause als Abtrünnige verschrien, schaffen sie sich eine neue Identität der Auflehnung. 

Protokoll

Der Schweizer Villi Hermann nähert sich in CHOISIR À VINGT ANS dem Schicksal französischer Deserteure während des Algerienkrieges im Gespräch mit ehemaligen Kriegsdienstverweigerern und Fahnenflüchtigen an.

Till Brockmann fragt in Anlehnung an die persönliche und oft collageartige Form des Filmes, ob es sich dabei um ein Tagebuch handele. Der Filmemacher erklärt, dass er die 60er-Jahre wie ein Großteil der Deserteure beiseite geschoben habe. Mit dem Film unternehme er eine Verarbeitung der Kriegszeit, die er als Kunststudent in Paris verbracht hatte. Da der Krieg in Literatur und Film bereits ausgiebig thematisiert wurde, sei ihm die persönliche Erzählweise gegenüber einer historischen Abhandlung vielversprechender erschienen. Die Darstellung von Deserteuren sei eine nach wie vor wenig gewählte Perspektive auf den Krieg, der in Frankreich noch bis vor wenigen Jahren nur als „Pacification et événement“ („Befriedung und Ereignis“) bezeichnet wurde.

Brockmann möchte wissen, ob der Filmemacher bereits in den 60ern Kontakt zu Deserteuren gehabt habe. Hermann gesteht, die Existenz von Deserteuren sei ihm, als jungem Kunststudenten in Paris, der sich die Stadt und ihre Galerien mit dem Zeichenblock in der Hand erschloss, vollkommen entgangen. Einzig als Zeitungsleser habe er das Événement miterlebt. In Kontakt mit Deserteuren sei er erst in den letzten Jahren während einer langwierigen Recherche gekommen, die er mit seiner Frau, einer Französin, im Schweizer Bundesarchiv durchgeführt habe, wo Herkunft und Abstammung eines jeden Deserteurs in polizeilichen Dossiers penibel festgehalten werden. Nach seiner Rückkehr in die Schweiz habe die Möglichkeit bestanden zum Wiederaufbau nach Algerien zu reisen, die zu ergreifen ihm selbstverständlich erschien.

Brockmann drückt Überraschung angesichts dieser Entscheidung des Filmemachers aus. Bis auf wenige beiläufige Erwähnungen polizeilicher Befragungen und studentischer Protestversammlungen in den Briefen an seine Mutter deute Hermann seine politische Involvierung mit 20 Jahren im Film nur vage an. Er hakt nach, wo der Filmemacher sich in Bezug auf das breite Spektrum politischer Motivationen, die hinter einer Desertierung stehen können, verorte. Hermann verweist auf sein behütetes Aufwachsen in einem „Schwitzer Dörfli“, erst die kontrastierende Erfahrung des französischen Großstadtlebens habe zu einem langsamen politischen Erwachen geführt.

Brockmann geht noch einmal auf Hermanns filmische Vorgehensweise ein, seine persönliche Geschichte zu erzählen. Der Filmemacher komme ausschließlich in Form der Briefe seines jugendlichen Studenten-Ichs zu Wort, der Verzicht auf einen direkten Kommentar vermittle im Gegensatz zu den vor der Kamera auftretenden Deserteuren den Eindruck von „Verklausulierung“. In einem Brief an die eigene Mutter oder die daheim gebliebene Freundin habe man nun einmal die Möglichkeit das eigene Denken zu filtern, eine Möglichkeit, die in der unmittelbaren Konfrontation mit der Kamera mindestens verringert sei. Aus welchem Grund habe der Filmemacher sich bei seiner eigenen biographischen Linie für diese gemilderten Form des Ausdrucks entschieden? Hermann berichtet, dass die Wiederentdeckung alter Liebesbriefe den Ausgangspunkt des Filmprojektes markiert habe. Nachdem er seiner Freundin aus Jugendtagen gegenüber von der Absicht, die Zeit in Algerien aufzuarbeiten, berichtet hatte, habe sie ihm seine alten Liebesbriefe geschickt. Der Fund von Briefen an seine Mutter habe ihn schließlich zu dieser filmischen Form bewogen. Er fügt hinzu, dass auch ein heutiger Migrant der Familie in der Heimat wohl kaum von all seinen Sorgen berichte.

Im Film kommt eine Bandbreite von Deserteuren unterschiedlichen Hintergrundes zu Wort. Damit wolle er der gängigen Vorstellung, Desertation unterliege einer strengen Organisation, ein Bild entgegenstellen, das die individuellen Wege der Deserteure und Verweigerer zeige. In Bezug auf den merklichen Stolz einiger Deserteure auf ihre jugendliche Entscheidung fragt Brockmann nach der Motivation des Filmemachers und inwieweit er damit ein „Wehmutsfenster“ geöffnet habe. Hermann verneint, dass Nostalgie Ausgangspunkt des Projektes gewesen sei, bekräftigt andererseits, dass die 60er-Jahre eine Zeit gesellschaftlichen und künstlerischen Aufbruchs gewesen seien und verweist auf die Rolle der Deserteure als Wegbereiter der Ereignisse im Mai ‘68. Er erzählt von dem Entschluss, ein Dutzend der ehemaligen Deserteure zu zeigen, anstatt sich auf wenige Schlüsselfiguren zu beschränken. Während drei der Männer bereits oft vor der Kamera zu Wort gekommen seien, habe er Wert auf die Darstellung weiterer, unbekannter Schicksale gelegt. Die Reduzierung des Teams auf seine Frau und ihn aufgrund mangelnder finanzieller Förderung und die Verwendung einer DSLR-Kamera habe die Öffnung dieser bisher Schweigenden begünstigt.

Vor dem Dreh in Algerien sei er zunächst alleine als Tourist in das Dorf seines ersten Aufenthaltes gereist um ehemalige Schüler ausfindig zu machen, schließlich habe er mit einem algerischen Tonmann zusammengearbeitet. Joachim Schätz betont das Wagnis der Teilung des Films in einen in Frankreich und einen in Algerien spielenden Teil, die ihm angesichts der Chronologie der Ereignisse schlüssig erscheine. Er fragt, ob die Struktur von Beginn an festgestanden habe. Hermann berichtet von Überlegungen, seine Person bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf einer Reise nach Deutschland mit einem der Deserteure einzuführen, diese Idee angesichts des Alters des Mannes jedoch wieder verworfen zu haben. Der Überraschungsmoment seiner Entscheidung nach Algerien zu reisen sei stets Angelpunkt der Montage gewesen. Eine Zuschauerin bemerkt, dass der Filmemacher durch die Darstellung seiner Entscheidung zum Helfen motiviere und eine Vorbildfunktion erfülle. Eine andere Zuschauerin fühlt sich in einer Archiv-Szene an LE PETIT SOLDAT von Godard erinnert, dem Hermann eine präzise Darstellung der Atmosphäre im Genf der 60er attestiert.

Werner Ružička stellt verschiedene Blickstrategien im Film fest. Der Blick auf das historische Ereignis sei seiner Generation wie durch einen Grauschleier verstellt gewesen und werde durch Hermanns persönliche Perspektive auf persönliche Weise eröffnet. Des Weiteren sei der standhafte Blick der Dargestellten hervorzuheben, der gewissermaßen aus der Geschichte auf die Zuschauer zurückfalle. Ob der Titel des Filmes Bezug auf Sartre nehme, will Ružička wissen. Hermann verneint und zitiert einen der Deserteure: Ob mit zwanzig oder mit achtzig, man müsse im Leben immer wählen. Die großgeschriebenen Anfangsbuchstaben im ersten Wort des Titels „CHoisir“ spiegeln seine Entscheidung als junger Schweizer und die der Deserteure wieder. „Le petit Suisse qui va en Algérie et le petit Francais qui va en Suisse“.

Ružička beobachtet, dass die Eröffnungssequenz des Filmes mit „cinematischem Aplomb“ dazu verleite, darüber nachzudenken, was Kolonialismus sei. Er fragt, was den Filmemacher dazu bewogen habe, die beklemmende Aneinanderreihung von Erschießungsszenen zu zeigen. Hermann berichtet, dass die exorbitanten Sekundenpreise von Archivmaterial ihn zu einer präzisen Wahl von Bildern gezwungen hätten, die zeigen, was Kolonialismus bedeutet. Die weitestgehend aus dem Bewusstsein verschwundenen Aufnahmen der Erschießungen rütteln die Zuschauer auf. Er habe gleich zu Beginn verdeutlichen wollen, was die Pacification Algeriens – die so bezeichnete Wiederherstellung der Ordnung auf französischem Gebiet – praktisch bedeute.

Im Anschluss an eine Bemerkung des Filmemachers vor der Projektion, dass der Film an ein Bild der Schweiz als ehemals aufnahmebereites Land erinnern könne, fragt Ružička nach den Reaktionen auf den Film in der Schweiz. Hermann berichtet, er habe dort keinen Verleih gefunden und werde versuchen ihn selbst zu verleihen. Die Laufzeit des Filmes mache ihn ungeeignet für einen Sendeplatz im Fernsehen vor Mitternacht und verfehle damit das anvisierte Publikum – die Menschen, welche an die gastfreundschaftliche Atmosphäre der 60er erinnert werden müssten. Eine Zuschauerin fragt, ob eine Vorführung in Frankreich geplant sei. Hermann vermutet, dass der Film dort nie gezeigt werde. Das unüberwundene Tabu der Kolonialzeit und ein starker Front National machen ihn unattraktiv für Verleiher. Von den vier französischen Festivals, denen er den Film geschickt habe, seien ihm Absagen erteilt worden.