Synopse
In den Koranschulen Bangladeshs lernen Kinder die Verse des Korans zu singen, ohne deren Bedeutung zu verstehen. Regisseur Dill-Riaz tritt ein in diese Bildungseinrichtung und versucht, ihre soziale und innerislamische Bedeutung im Gespräch mit Eltern, Lehrern, Befürwortern und Gegnern zu ergründen.
Protokoll
Da der Prophet Mohammed weder lesen noch schreiben konnte, gab der Erzengel Gabriel Mohammed den Befehl, den Menschen vorzutragen, was Gott ihm in sein Herz geschrieben hat.
In KORANKINDER legt der Autor seine Karten auf den Tisch, so Werner Dütsch. Shaheen Dill-Riaz ist in Dhaka, Bangladesch geboren, sein Film-Interesse ist auch ein persönliches: Was für eine Beziehung haben die Menschen in Bangladesch zu der islamischen Religion?
Die Möglichkeit in den Madras (Koranschulen) zu drehen, ermöglichte ein alter Bekannter der Familie. Das – im Koran nicht erwähnte – Bilderverbot lässt sich durch Beziehungen umgehen. Dill- Riaz ist nicht der erste, der in einer Koranschule filmen durfte. Fotografen oder TV-Reporter interessierten sich aber nur wenig für den Schulalltag und die Lehrinhalte – ihnen ging es wohl eher um die Frage, ob die Madras mit terroristischen Organisationen in Kontakt stehen. So lässt sich auch erklären, dass die Lehrer der Kamera sehr skeptisch gegenüberstanden und kein persönlicher Zugang möglich war. Allerdings empfand Dill-Riaz sie in den Gesprächsinhalten gegenüber offen und sie verstanden auch seine Kritik.
Es gibt verschiedene Koranschulen in Bangladesch. Jede Schule entscheidet selbst, ob zum Beispiel auch Mädchen unterrichtet werden. Auch die Lehrpläne sind unterschiedlich. Shaheen Dill-Riaz zeigt in seinem Film hauptsächlich die Madras, die eine 6-jährige Ausbildung zum Hafiz anbieten. Nach dieser Ausbildung besteht an einigen Schulen die Möglichkeit weiter zu lernen: Sprachen, Naturwissenschaften, Auslegung des Korans usw. Die Lehrpläne sind dann zumeist denen der staatlichen Schulen angepasst, so dass die Schüler nach der 12. Klasse auch auf die Universität können. Dieser Universitätswechsel wird den Schülern aber immer schwerer gemacht.
Die Ausbildung zum Hafiz, zu einem Menschen, der den gesamten Koran in arabischer Sprache auswendig gelernt hat, beinhaltet in vielen Schulen nicht das Lernen der arabischen Sprache. Die Schüler lernen die einzelnen Buchstaben und die Aussprache. Dies ist für einige Zuschauer schwer zu verstehen, denn man lernt doch nur, was man versteht. Werner Dütsch erinnert ‚diese Methode‘ an katholische Messdiener, die zu Zeiten, als die Messe noch in Latein abgehalten wurde, ihre Texte phonetisch erlernen mussten.
In der muslimischen Tradition ist das Rezitieren tief mit dem Ursprung des Korans verhaftet.
Der Koran (Lesung, Rezitierung, Vortrag) ist die Heilige Schrift des Islam. Der Erzengel Gabriel hat Gottes wörtliche Offenbarung an den Propheten Mohammed vermittelt. Der Koran trägt im Arabischen das Attribut karim (edel, würdig). Er stellt für die Muslime das Wort Gottes in arabischer Sprache dar, dem Folge zu leisten ist. […]
Der Koran besteht aus 114 mit Namen versehenen Suren, von denen 113 mit der Basmala (bi-smi llāhi r-rahmâni r-rahīm, „Im Namen Allahs, des Erbarmers des Barmherzigen.“) anfangen. […] Der Koran entstand in einem Zeitraum von etwas mehr als zwei Jahrzehnten. Die Suren bestehen aus einer unterschiedlichen Anzahl an Versen (arabisch: Aya (Pl. Āyāt), wobei die Suren – bis auf die erste – fast durchgehend der Länge nach angeordnet sind, zum Ende hin kürzer werdend. Insgesamt besteht der Koran aus 6.236 Versen.
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Koran
6236 Verse müssen die Schüler innerhalb der 6-jährigen Ausbildung unter strenger Aufsicht und mit Hilfe des Schlagstockes auswendig lernen. Die Schläge, die ein Zuschauer auch von seinem Geigenunterricht her kennt, sind bildlich übertragen für ihn eine Art Verkörperung des Buches. Die Schläge sind auch notwendig, denn „kein Kind würde diese Anstrengung freiwillig machen“, sagt Dill-Riaz.
Besonders die Kinder aus der ärmeren Bevölkerungsschicht werden in eine Madras geschickt, wo sie wohnen und auch Essen bekommen. (In Bangladesch gibt es auch NGOs die Schulen für Kinder anbieten, aber viele armen Familien schicken ihre Kinder lieber in eine Madras, als in eine Schule, die von „einer norwegischen Organisation geleitet“ wird.)
Die Familie „opfert einen Sohn“, der ihnen den Weg in den Himmel und in ein besseres Leben nach dem Tod ebnen soll. Ein Hafiz kann 40 Menschen mit ins Paradies mitnehmen, so heißt es. Im Koran steht aber davon nichts geschrieben. Im irdischen Leben hat ein Hafiz zumindest die Möglichkeit seine Familie zu ernähren: Er kann selbst Lehrer werden oder er wird von anderen Familien zu wichtigen Anlässen gerufen, um aus dem Koran zu rezitieren. Die obere Mittelschicht in Bangladesch hat, so die Erfahrung von Dill-Riaz, ein problematisches Verhältnis zu den religiösen Berufen: „Man holt sie, wenn sie nützlich sind“.
Das Verhältnis gerade der oberen Mittelschicht, der auch Dill-Riaz Familie angehört, zur Religion und den islamischen Traditionen interessiert den Regisseur. Um den Umgang mit Religion in der bengalischen Gesellschaft zu erklären, scheint es notwendig sich auch mit der Geschichte Bangladeschs auseinanderzusetzen. Ein wenig davon versucht Dill-Riaz auch in der Duisburger Diskussion zu vermitteln.
Bangladesch (Land der Bengalen). Landessprache: Bengali. Banladesch bildete bis 1947 einen Teil Britisch-Indiens. Nach der Teilung des Landes in einen mehrheitlich hinduistischen, säkularen Staat (Indien) und einen muslimischen Staat (Pakistan) wurde das ebenfalls überwiegend islamische Ost-Bengalen Pakistan zugeschlagen, von dem es geographisch durch Indien getrennt war. Trotz der gemeinsamen islamischen Religion trennten Westpakistan und Ostpakistan aber nicht nur sprachliche und kulturelle Verschiedenheiten. 1971 erlangte Ostpakistan infolge des Bangladesch-Kriegs unter dem Namen Bangladesch seine Unabhängigkeit. Nach Darstellung der Regierung von Bangladesch kostete der Unabhängigkeitskrieg drei Millionen Bengalen das Leben und mehr als 20 Millionen Flüchtlinge flohen nach Indien. Ab dem Frühjahr 1972 wurde Bangladesch nach und nach von der Mehrheit der Staatengemeinschaft anerkannt; Pakistan erkannte das Land im Februar 1974 an. Der Großteil der Bevölkerung, rund 90 Prozent, bekennt sich zum Islam, gefolgt vom Hinduismus mit etwa neun Prozent und dem Buddhismus mit weniger als einem Prozent. Der Islam ist Staatsreligion. Dem Christentum gehören etwa 0,3 Prozent der Bevölkerung an.
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Bangladesch#V.C3.B6lker_und_Sprachen
Wie im Katalog der Duisburger Filmwoche bereits von Shaheen Dill-Riaz angekündigt, wird seine filmische Arbeit weiter in diese Richtung gehen. In seinem nächsten Projekt möchte er die drei Länder Pakistan, Bangladesch und Indien zusammenbringen. Dill-Riaz betont am Ende der Diskussion, dass es nicht seine Aufgabe ist, ein positives oder negatives Bild des Islam darzustellen. Er ist an Themen interessiert. Auf die Frage, ob ihm die Koranverse heilig sind, die ihm am Rande einer anderen Veranstaltung gestellt wurde, antwortete er: Bestimmte Koranverse sind ihm heilig, so heilig wie bestimmte Gedichte von Rilke oder Lieder von Bob Dylan.