Film

Die Zeit der Strom
von Petra Lataster, Peter Lataster
DE/NL 1999 | 260 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 24
07.11.2000

Diskussion
Podium: Petra Lataster, Peter Lataster
Moderation: Alexandra Schneider
Protokoll: Torsten Alisch

Synopse

Ein 300-Einwohnerdorf im brandenburgischen Land. Ehemalige DDR-Funktionäre, einst enteignete Bauern und Rückkehrer und ihr noch unsicheres neues Landleben nach der sozialistischen Zwangskolchose. Was sie verbindet, ist nicht nur die gemeinsame Geschichte auf altem Boden. Jenseits gewohnter Bauernklischees erzählt der Film in ruhigen, satten Bildern die Philosophie vom Leben als langem aber nicht immer ruhigen Fluß.

Protokoll

Sahen wir im Film Das erste Dorf der Sowjetunion, direkt hinter der Mauer? Eine Assoziation zum Einführungstext über den sowjetischen Kosmonauten, der während des Zerfalls der osteuropäischen Diktaturen ein Jahr lang im All schwebte und doch so gern bei seinen Landsleuten gewesen wäre … Volker Heise vom Auswahlteam (in Berlin lebend und in Brandenburg arbeitend) empfand es als seltsam, das eigene Land als Osteuropa sehen zu müssen – und wie die große Sowjetunion über ein so kleines Dorf so detailliert regiert hat. Peter Lataster wollte kosmonautengleich – die Filmemacher kommen aus Amsterdam – als “fremde Besucher” diesen Menschen im Dorf gegenübertreten.

Petra Lataster kann & will ihre Wurzeln nicht leugnen (in der DDR aufgewachsen und der DEFA-Dokumentarfilmschule verwachsen), empfindet ihre Ausbildung als großes Geschenk. Konzeptuell in großen Zusammhängen denken und sich doch individuell auf Leute einzulassen.

So wie es der Bürgermeisterin im Film (und im Leben) Spass gemacht hat, die Lasten der großen 5-Fünf-Jahrespläne auf die in den 50er Jahren noch bestehenden privatwirtschaftlichen Bauernhöfe zu verteilen.

“Wir machen am liebsten Filme über Leute, die wir irgendwie lieben”. Und über “Leute, die geschichtsträchtig” sind, deren “Geschichte gradezu darum bettelt, verfilmt” zu werden.

So wie Frau Dröge, mit der man “mindestens 20mal warmen Sekt” trinken musste, um sie zum Reden (vor der Kamera) zu bringen.

Das Wort “Verhör” fiel von verschiedenen Seiten als Charakterisierung des Fragestils der Filmemacherin, was Frau Petra Lataster “ehrlich erschütterte”. Die “Qualität” ihrer Fragen lasse sich doch an der Reaktion der Menschen messen und man sei nach dem Film als Freunde auseinandergegangen … Der etwas zu leise vorgebrachte Zwischenruf “Das ist doch in den Fernseh-Talkshows auch nicht anders!” wurde gewissenhaft überhört.

Manche fanden es “erlösend”, daß gerade diese basics des menschlichen Zusammenlebens abgefragt wurden (Sind Sie glücklich? Haben Sie Spass?), weil man den Menschen so Raum gibt, überhaupt einmal über so etwas zu sprechen …

Die im Westen lebende Erika Gröger bedankte sich später per Brief, daß sie bei den Dreharbeiten das erste Mal intensiv über ihren verstorbenen Bruder nachdenken durfte, ein eigenes Nachdenken, ausgelöst durch die intimste Frage (“Haben Sie ihren Bruder geliebt?”) am intimsten Ort, an dem Erika Gröger noch mit ihrem Bruder zusammen sein konnte (an dessen Grab). Ob man solche Fragen überhaupt stellen muß, wurde gefragt.

Man kann in diesem Film “Menschen dabei zusehen, wie sie nachdenken” und wie sie dabei Beziehungen zu anderen Menschen suchen. Wenn Menschen während des Interviews plötzlich den Bildausschnitt verlassen, zeige das, wie souverän diese Menschen sind. Und wenn man lange auf eine Antwort warten muss, erzähle dieses “mühsame Sprechen” auch viel über die Menschen (aber auch einiges über die Filmemacher, die schamfrei draufhalten).

Wenn man sich so lange an einem Ort aufhält und die Bewohner persönlich kennenlernt, entwickelt sich dann keine andere Gesprächskultur? Wurde dieses simpel-naive Frage&Antwort-Spiel mit Absicht aufrechterhalten? Petra Lataster betonte ihr eigenes “vollkommen verschiedenes Leben”, das sie von den Dorfbewohnern trennt: Sie hätte sonst das Gefühl zu lügen, wenn sie mit ihren Protagonisten anders gesprochen hätte. Wenn man die 40 überschritten habe, werden die Sinnfragen des Lebens immer wichtiger, äußert sie, und diese Themen kämen dann immer öfter in die eigenen Filme hinein. Sie möchte Menschen daran messen, wieviel Kraft & Talent sie haben, sich ihr Leben glücklich einzurichten.

Die Idee zu diesem Film ergab sich aus einer Auftragsarbeit über Herrn Häusmann, in deren Verlauf die Filmemacher die anderen Dorfbewohner kennenlernten. Sie wollten aber nicht “irgendwelche” Leute porträtieren, sondern die Porträts hätten der Geschichte zu dienen: gesucht wurden Familien, die einen bestimmten Politikstil repräsentier(t)en. Am schwersten vom Projekt zu überzeugen waren “die Bürgermeister”, die nach der Wende sehr isoliert im Dorf leben und sich nicht mit anderen Dorfbewohnern drehen lassen wollten. Überhaupt scheint die Lage im Dorf sehr polarisiert: Bei der öffentlichen Aufführung des Films in einem Dorfstall gab es viel Gejohle und Buh-Rufe – nicht als kritische Reaktion auf den Film, sondern als gegenseitiges Beklatschen bzw. Ausbuhen der jeweiligen Gruppierung.

Man hätte dieses Dorf (wie so viele andere auch) als Ansammlung von Alkoholikern zeigen können, jeder Mann trinkt jeden Tag mindestens 10 Bier, aber darüber muß geschwiegen werden und die Menschen sterben dann an Schlaganfällen oder Kreislaufversagen – aber niemals am “sich zu Tode trinken”.

Volker Heise hob zum Schluß noch einmal die beiden Pole hervor, die diesen Film auszeichnen: sehr elegische und gut kadrierte Bilder als Gegensatz zu den harten und sehr direkten Fragen.