Extra

Eine Zukunft im Kabel

Duisburger Filmwoche 22
1998

Podium: Lutz Hachmeister, Paul Leo Giani, Joachim Ortmann, Freddie Röckenhaus
Einführung: Theda Kluth
Protokoll: Judith Keilbach

Protokoll

Konkreter Anlaß des 2. Extras der Duisburger Filmwoche, das sich mit den Möglichkeiten von dokumentarischen Spartenkanen in der bundesdeutschen Fernsehlandschaft beschäftigte, war die Fertigstellung einer Studie zu diesem Thema. Eingangs erläuterte Theda Kluth die Hintergründe, die das Ministerium für Arbeit, Soziales und Stadtentwicklung, Kultur und Sport dazu veranlaßt hatte, diese Studie in Auftrag zu geben. Im Land Nordrhein-Westfalen stelle sich die Frage, inwiefern der Dokumentarfilm unterstützt werden könne, wobei auch das Ausloten eines Spartenkanals anzudenken sei. Es sei festzustellen, daß im Dokumentarfilmbereich das Zuschauerinteresse steige, sich eine breite Themenpalette und neue Formen (z.B. Doku-Soaps) entwickelten, das Interesse der Filmemacher am Dokumentarfilm wachse und schließlich US- amerikanische Firmen versuchten, hier Fuß zu fassen. Diese Bewegung im Bereich des Dokumentarfilms sollten von der Studie unter der Fragestellung, ob ein dokumentarischer Spartenkanal zu etablieren sei, genauer analysiert werden.

Lutz Hachmeister stellte daraufhin die von seinem Unternehmen durchgeführte Studie vor. Festzustellen sei, daß der deutsche Fernsehmarkt hinter den Entwicklungen in anderen Ländern deutlich zurückhänge; dort sei die Ausdifferenzierung hinsichtlich von Spartenkanälen bereits weiter fortgeschritten. Beispielsweise existierten in den USA inzwischen 180 Spartenkanäle, worunter auch der non-fiction Bereich stark vertreten sei. Hier werde deutlich, daß sich dokumentarische Kanäle durchaus ökonomisch rechnen würden. Darüber hinaus ließe sich ein Boom im Welthandel mit dokumentarischen Programmen feststellen, das Volumen habe sich vervielfacht. Das Desinteresse am Dokumentarfilm und dokumentarischen Spartenkanälen führt Hachmeister auf medienpolitische Faktoren zurück. Seine Studie würde zeigen, daß weder ökonomische (innerhalb von 7 Jahren habe sich ein solcher Kanal amortisiert, so seine Rechnung) noch technologische Aspekte, wie z.B. die Behauptung der Übersättigung des Kabelnetzes, gegen das Projekt eines Spartenkanals sprechen würden. Auch die Digitalisierung sowie die absehbare Deregulierung des Kabelsystems seien keine Gegenargumente sondern würden vielmehr dazu dienen, Unsicherheit auf dem Fernsehmarkt zu evozieren und damit die medienpolitische Verhinderung fortzusetzen. Einen der wesentlichen Vorteile eines dokumentarischen Spartenkanals sieht Hachmeister in der Stimulierung neuer Produktionen, womit der „strukturellen Unterentwicklung“ dieses Bereichs entgegengetreten werden könne.

Paul Leo Giani stellte die Konzeption des „3. Weges“ vor, mit der nicht auf einen Spartenkanal sondern auf eine Mischung innerhalb eines Kanales gesetzt werde. Hierbei handele es sich darum, die Struktur des mainstreams mit Fensterplätzen aufzubrechen, wie es das dctp betreibe. Diese bisher nur von den Landesmedienanstalten vorgegebene Fensterregelung ziele darauf ab, ein zusätzliches Programmangebot und publizistische Vielfalt (z.B. durch Dokumentarfilme) innerhalb eines Kanals zu schaffen und damit Positionen zu stärken, die von den Besitzverhältnissen unabhängig seien. Eine derartige Machtverteilung wäre ein 3. Weg zwischen kommerziellem/industrieverbundenem und öffentlich-rechtlichem Fernsehen. Die Anhörungen zur Neuregelung des Rundfunkstaatsvertrags hätten jedoch seine medienpolitischen Hoffnungen zunichte gemacht. Bereits an der Auswahl der Teilnehmer würde deutlich, daß an der Fortführung dieser Konzeption kein Interesse bestehe: Eingeladen seien lediglich die üblichen Vertreter der am dualen System Beteiligten, Befürworter eines 3. Weges würden erst gar nicht gehört werden. Skepsis äußerte Giani an Hachmeisters Aussage, dokumentarische Spartenkanäle würden nicht aus ökonomischen Interessen sondern medienpolitisch verhindert werden: bisher gebe es keine ernsthaften Bewerber, die ein solches Projekt finanzieren möchten. In der Option des digitalen Fernsehens sieht er Chancen zu einer fundamentalen Veränderung der Finanzierungsstruktur genauso wie das Risiko der Konzentration. In der gegenwärtigen Situation gelte es, machtpolitische Bündelungen zu verhindern.

Die gegenwärtigen Unsicherheiten in der Fernsehlandschaft wurden auch in Joachim Ortmanns Ausführungen deutlich. Er beschrieb die Situation von Kanal 4, der viele Jahre einen Fensterplatz von RTL u.a. mit dokumentarischen Filmen gefüllt hat. Im Zusammenhang mit Veränderungen im Rundfunkstaatsvertrag wurde der Status von Kanal 4 auf den eines Postproduzenten verringert, wodurch die Arbeitsweise umstrukturiert werden müsse. Der Markt schlage zu: letztendlich entscheide nun RTL, was gesendet werde. Um als marktorientierte Firma zu überleben, könne an der bisherigen Form der Produktionen nicht mehr festgehalten werden. Am Fall von Kanal 4 haben, so läßt sich aus Ortmanns Darstellung folgern, medienpolitische Entscheidungen zur Kommerzialisierung geführt, mit der eine Standardisierung der Produktionen einhergeht.

Nicht dokumentarische Fensterprogramme sondern ein Spartenkanal stand in Freddie Röckenhaus Statement im Mittelpunkt. Er berichtete von seinen Erfahrungen beim Versuch, einen solchen zu etablieren, aus denen sich auch Hachmeisters Studie speise. Dabei bestätigte er indirekt Paul Leo Giani, indem er das Scheitern dieses Projektes nicht in der Erteilung einer Lizenz sondern in der Finanzierbarkeit verortete. Die Lizenz hätte sich in diesem Fall an den Nachweis der wirtschaftlichen Machbarkeit gekoppelt, medienpolitisch hätte es ein starkes Interesse gegeben. Obwohl in verschiedensten Bereichen Gespräche geführt worden waren, sei niemand zu Investitionen bereit gewesen, da die Branche zum Zeitpunkt des Projektes (vor 2 1/2 Jahren) vom ‚digitalen Virus‘ infiziert gewesen sei und finanziell eher am zukünftigen Fernsehen interessiert war. Außerdem sei eine generelle Skepsis gegenüber dem Dokumentarfilm festzustellen gewesen: anders als beispielsweise in den USA werde er hier mit spitzen Fingern angefaßt. Letztendlich seien die BWL-Leute in den Unternehmen die gatekeeper zur Finanzierung und zum Engagement.

In der anschließenden Diskussion wurde die Komplexität dieses Themas deutlich: ob es für den Dokumentarfilm eine ‚Zukunft im Kabel‘ geben kann und soll und wie diese aussehen würde ist bestimmt von Faktoren wie dem filmischen Material und den Verwertungsrechten, der Senderreichweite und den Kabelnetzbetreibern, ökonomischen Aspekten und politischer Regulierung, Besitzverhältnissen und Konglomeratsinteressen…

Um einige Punkte herauszugreifen: Vorausgesetzt, es tritt eine Deregulierung des Kabelsystems ein, würde das Angebot nicht mehr über die Vergabe von Kabelplätzen von den Landesmedienanstalten kontrolliert werden, sondern die Kabelbetreiber würden selbst über den Inhalt ihres Programmpaketes, das sie den Zuschauern anbieten, entscheiden. Die Entscheidungsmacht würde sich dadurch entscheidend verändern. Damit müsse sich auch die gesamte Finanzierung umstrukturieren, so Giani. Aber bereits heute sei die Frage, ob sich ein Sender finanziell rechne, falsch gestellt; es gehe vielmehr darum, ob sich eine Firmengruppe im Gesamten rechne (und dafür wären auch Abschreibeprojekte nötig). Diese Überlegung verdeutlicht, wie schwierig sich in der Diskussion eine Prognose über die (finanzielle) Zukunftsfähigkeit dokumentarischer Formen darstellte. Auch hinsichtlich der möglichen Qualität konnten die Diskutanten zu keiner eindeutigen Aussage gelangen: Werden ‚hochwertige‘ und kulturell wichtige Dokumentarfilme auch in einem Spartenkanal auf die Nachtschiene rutschen? Welche Auswirkungen hat die Globalisierung der Medienmärkte für die deutschen Filmemacher? Werden sie nicht durch die Marktmechanismen gezwungen, sich nicht an die Standards des von den USA dominierten Marktes anzupassen? (Über die Auswirkung auf die Qualität schien man sich hierbei einig zu sein.)

Eine weitere Frage betraf die rechtliche Verwertung von Filmen. Paul Leo Giani stellte zur Diskussion, wie die Programmschätze (im Sinne von Schatzanhäufung) in den Archiven der öffentlich-rechtlichen Anstalten gehoben und Ressourcen zusammengeführt werden könnten. Die Filmemacher seien durch die Abgabe der Abspielrechte enteignet worden, bestätigte ein Teilnehmer und auch die Wiederverwertung auf Phoenix bringe ihnen nichts ein, seien die Wiederholungshonorare doch deutlich herunter gehandelt worden. Außerdem würde das Einbringen von Programmvorräten aus dem Bestand der Öffentlich-Rechtlichen bei Arte dazu führen, so ein weiterer Teilnehmer, daß dort die Produktion von Dokumentarfilmen halbiert werde.

Zur Ehrenrettung der Öffentlich-Rechtlichen, deren Förderung qualitativ hochwertiger Filme ein Diskutant auf die konkurrenzfreie Vergangenheit zurückführte, wurde aus dem Publikum auf „verbündete Redakteure“ hingewiesen. Die Gefahr, daß ein Dokumentarfilmkanal die Finanzierung aus den Töpfen der Filmförderung zum versiegen bringen könne, sah ein anderer Teilnehmer.

Während Hachmeister das von ihm favorisierte Projekt eines dokumentarischen Spartenkanals scheinbar schon ganz konkret vor Augen sah, blieben alle Weiteren im Saal eher skeptisch, sei es aus Gründen der Abhängigkeit von komplexen Strukturen, deren Berücksichtigung die Studie für konkrete Handlungsoptionen zu allgemein erscheinen lassen, oder aus (berechtigter) Existenzangst.