Teil II: Produzenten und Redakteure – Neue Kooperationen, neue Machtverhältnisse?
Protokoll
In den drei deutschsprachigen Ländern herrschen – was die Rolle des Fernsehens in der Dokumentarfilmproduktion betrifft – jeweils sehr unterschiedliche Situationen. Zusätzlich existiert eine äußerst komplexe (bis diffuse) Struktur in Bereichen europäischer Media-Programme und Coproduktionen.
Helene Maimann (seit 1994 Leiterin der Redaktion „Zeitgeschichte“ beim ORF) skizziert den Sonderfall Österreich. Der ORF ist „Monopolunternehmen“ in Bezug auf Zuschauerrezeption (Einschaltquoten von 50%) sowie (Dokumentar- und Spielfilm-) Produktion. Es existiert keine wirklich „unabhängige“ Produzentenlandschaft in Österreich. 1994 wurde beim ORF ein neues, stark an deutschen Privatsendern geschultes Management eingesetzt, um den ORF wieder/noch mehr voranzubringen: 75% aller Österreicher sind an das Kabel-/Satelliten-Netz angeschlossen und können somit alle deutschsprachigen Fernsehsender empfangen. Dieses neue Management hielt 1994 den Dokumentarfilm für ein „abgelebtes Genre“ und traute ibm keinerlei Erfolgschancen mehr zu. Helene Maimann, die sich selbst als „Sendungsmacherin“ (in Analogie zu Filmemacherin) bezeichnet, stellt klar, daß es im Fernsehen keine „Reservate“ mehr gibt: Wenn ein Programm keinen Erfolg hat, wird es eingestellt (experimentellere Filme). Trotzdem werden heute so gut wie jeden Tag Dokumentarfilme im ORF ausgestrahlt.
Madeleine Hirsiger (leitet und moderiert zwei Kinosendungen im SRG) erläutert die spezifische Situation in der Schweiz: Der SRG produziert drei Vollprogramme in jeweils drei Sprachen und wird von etwa einem Drittel aller Schweizer gesehen. Es gibt 20 Uhr-Termine für Dokumentarfilme von etwa 55 Minuten Länge. Ein Abkommen zwischen SRG und freien Filmschaffenden regelt, daß jährlich im Dokumentarfilmbereich 9,3 Mio. SFR für freie Filmschaffende zur Verfügung stehen sowie zusätzlich eine Art „Bonbon“ von 1,3 Mio. SFR für Produzenten, die dieses Geld je nach Erfolg der bisher produzierten Filme erhalten und zur freien Verfügung haben. Freie Filmschaffende bringen eine Vielfalt von Längen, Themen und Formen hervor, die im Schweizer Fernsehen so ihren Platz findet.
Doris Hepp (seit 1989 beim „Kleinen Fernsehspiel“/ZDF und seit 1992 auch für ARTE tätig) hebt hervor, daß es im ZDF keine eigene Dokumentarfilm-Redaktion mehr gibt. „Das kleine Fernsehspiel“ realisiert hauptsächlich „ungewöhnliche und eigenständige“ Low-Budget-Projekte mit jungen Filmemachern, daneben gibt es die Sendung „Quantum“ (3SA T) sowie jährlich etwa 20 Themenabende fUr ARTE und vereinzelte Dokumentarfilme im regulären ZDF-Programm. Thr Selbstverständnis ist das einer Redakteurin mit dramaturgischer Beratung und Betreuung.
Doris Hepp formulierte drei „provokante“ Thesen:
– Produzenten arbeiten mit den Sendeanstalten am Abbau dieser Redakteursstellen.
– Drei sind einer zuviel: Warum brauchen Autoren und Redakteure überhaupt (Kino-) Produzenten, wenn eine erfolgreiche Kinoauswertung maximal 30.000 Zuschauer, eine Fernsehausstrahlung mit minimalster Einschaltquote aber mindestens 150.000 Zuschauer erreicht?
– Ein guter Produzent mit dramaturgischem Geschick ist ein Glücksfall für alle drei.
Werner Dütsch (WDR) betont, daß hier nicht über Tier- oder Naturdokumentationen – mit denen weltweit unglaubliche Geschäfte mit unglaublichen Gewinnen gemacht werden – gesprochen wird, sondern über „ungewöhnliche“ Dokumentarfilme, die es noch nie in so großer Zahl und für die es noch nie so viele {unterschiedliche) Geldgeber gab. In der ARD hat fast jede Anstalt eine eigene Dokumentarfilm-Redaktion. Der Einfluß des Fernsehens auf den Dokumentarfilm hat ungemein zugenommen, obwohl selbst im Durchschnitt nur mit 10 bis 20 % am Etat beteiligt, gibt es so gut wie keine Dokumentarfilme ohne Fernsehgelder mehr (auch europäische Media-Programme können nur bei Fernsehbeteiligung in Anspruch genommen werden). Produzent ist jemand, der Geld verwalten, aber auch beschaffen kann: Eine Tätigkeit zwischen Buchhalter und Rechtsanwalt (um sich in den laufend neuen EU-Förderrichtlinien auszukennen). Es hat noch nie so viel Gelder gegeben, aber auch noch nie so viele Gremien: Ein durchschnittlicher Dokumentarfilm muß den kleinsten gemeinsamen Nenner von etwa 50 Entscheidungsträgern (in diversen Gremien) finden. Werden die Filme dem Geld immer ähnlicher, mit dem sie hergestellt werden? Ein filmischer Europudding? Noch aber lassen sich französische von britischen oder deutschen Filmen unterscheiden.
Daneben existiert weiterhin jede mögliche Produktionsform für Dokumentarfilme: „Barfußfilmer“, die bereits für ein kostenlos zur Verfügung gestelltes 16mm-Equipment arbeiten und Projekte in mehrstelliger Millionenhöhe. Es gibt nicht „die eine Regel“, sondern nur die Suche nach ),Verbündeten“, mit denen sich ein Projekt realisieren läßt.
Erich Lackner (österreichischer Produzent) beklagt die zu umfassenden Fernsehrechte, die TV -Anstalten fordern, wenn sie Filme koproduzieren, und die späte Zahlung der ersten Raten (erst nach Rohschnittabnahme). Er produziert jährlich etwa zwei Dokumentarfilme ausschließlich mit Fernsehgeldern und etwa 5 Projekte, bei denen sich das Fernsehen mit 20 bis 50% beteiligt (aber trotzdem alle Satellitenrechte für den deutschsprachigen Raum beansprucht).
Marcel Hoehn (Schweizer Produzent) arbeitet am liebsten mit den zwei bis drei in der Schweiz für Dokumentarfilm zuständigen Redakteuren zusammen – wegen des „unkomplizierten Dialogs“. Muß Hoehn aber ein höheres Budget finden, fühlt er sich bei deutschen Anstalten schnell „auf verlorenem Posten“, weil ihm hier die festen Kontakte fehlen.
Für Thomas Kufus (deutscher Produzent) hat sich der Dokumentarfilm durch den Einfluß des Fernsehen (kaum noch eigenständige Sendeplätze für „abendfüllende“ Längen) und in jüngster Zeit auch durch den Kinomarkt stark verändert: Kinos erwarten eine hervorragende technische Qualität in Bild & Ton (35mm, aufwendige Vertonung, teure Musikrechte ). In den Filmfördergremien und Stiftungen findet Kufus größeres Verständnis und mehr Freiheiten vor, er möchte lieber fertige Filme ans Fernsehen verkaufen statt diesem als Coproduzenten zu viele Fernsehrechte abtreten zu müssen. Von 50 bis 70 Dokumentarfilm-Exposés, die bei ihm jährlich eingehen, kann er nur ein bis maximal drei Projekte realisieren.
Anekdotenhaftes zur Fernsehausstrahlung von Ulrich Seidls „Die letzten Männer“ zur prime time im Österreichischen Fernsehen sorgte für einiges Schmunzeln. Helene Maimann sieht die Aufgabe der Programmierung (zur richtigen Zeit, im richtigen Umfeld, wenn möglich mit begleitender Berichterstattung in den Printmedien) für eine wesentliche Aufgabe einer Redakteurin: „Die letzten Männer“ wurde (unter lautem Protest von Ulrich Seidl) um 15 Minuten gekürzt, um ihn um 21.15 Uhr direkt vor der Übertragung des Wiener Opernballs auszustrahlen – und so eine Einschaltquote von 18% zu erreichen. Geschickt fUgte Erich Lackner an, daß eine solch radikale Kürzung zeige, wie unbekannt mit Preisen ausgezeichnete Regisseure bei Fernsehredakteuren sind. Hier offenbare sich die „ungeheure Arroganz des Fernsehens“, rief Andreas Kilb (Die ZEIT) aus dem Auditorium, nur um dann von Erich Lackner erklärt zu bekommen, daß diese ganze „Kürzungsaffaire“ eine über die Medien gesteuerte Polemik war, um die sehr hohe Einschaltquote zu erzielen.
Ob Dokumentarfilmproduzenten nicht auch fernsehgerechte Feature und Serien als „Broterwerb“ realisieren sollten, fragte Werner Ruzicka. Einstimmig erklärten die anwesenden „Produktionshäuser“, daß sie die dazu notwendigen Fähigkeiten und Erfahrungen bisher nicht besäßen (Marcel Hoehn aber produziert durchaus mit einer Tochterfirma Industrie-Werbespots).
Elisabeth Marshan (zuständig für die Vorauswahl von Dokumentarfilmprojekten für das „Media 2“ -Programm bei der European Media Development Agency EMDA in London) gab allen „Newcomern“ den Rat, sich an einen guten und erfahrenen Produzenten zu wenden. Autoren, die mit frisch gegründeter eigener Filmfirma EU-Gelder oder europäische Coproduzenten suchen, sind so gut wie chancenlos.