Extra

Eden für jeden

Duisburger Filmwoche 19
10.11.1995

Podium: Karl Kels (Filmemacher), Michael Miersch (Journalist), Christoph Schaub (Filmemacher)
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Antje Ehmann

Beispiele und Thesen zum Tier- als Dokumentarfilm

Protokoll

Als Einführung in das zur Debatte stehende Thema skizzierte Michael Mirsch, der derzeit in Zusammenarbeit mit dem WDR und ARTE eine Sendereihe über die Geschichte des Tierfilms im Fernsehen vorbereitet, einige prägnante Veränderungen, die der Tierfilm im Fernsehen seit seinen Anfängen durchlaufen hat. Damit standen der nachfolgenden Diskussion zugleich einige Thesen und Informationen zum Tier-Mensch-Verhältnis und Tierfilmgenre zur Disposition:

Zunächst verwies Mirsch auf die inzwischen fast vergessene Tatsache, daß es Grzimek war, der bereits in den 50er Jahren (zusammen mit Sielmann, Schuhmacher u.a.) den ökologischen Diskurs in die Diskussion brachte und somit die Grundlagen für die Umweltbewegung der 70er und 80er Jahre schuf. An der mit Grzimek beginnenden Geschichte des Tierfilms im Fernsehen sei gut ablesbar, wie sich die Beziehung des Menschen zur Natur gewandelt habe. Sui generis gelte – so seine erste These –, daß der Tierfilm, ähnlich wie der Zoo, als Notausgang bzw. -eingang zur Natur fungiert. Genau aufzeigbar sei z.B., daß die zunehmende Anthropologisierung und Verniedlichung des Tiers proportional zur Zivilisierung der Natur verlaufen sei; als Kehrseite dessen habe die nur noch als gebändigt erlebte Natur ein Bedürfnis nach (filmischen) Blicken auf das wilde Tier freigesetzt. In Folge der inzwischen ultimativen Ferne des Menschen zum Naturhaften und Animalischen ergebe sich schließlich ein umfassendes Interesse am Tier „an sich“. Anschaulich wurde dies am folgenden Überblick über die Geschichte des Tierfilms im Fernsehen:

ln den Anfängen des Tierfilms sind Tiere ins Studio geholt worden, lediglich um sie als skurrile Schauobjekte begaffen zu lassen. Der hier waltende reine Sensationscharakter á Ia ‚this is a chimpanzee‘, der jedwede Informationen über Lebensweise und Verhalten der Tiere ausgeschlossen hat, ist abgelöst worden von Filmen, die auf eine starke Abenteuerdramaturgie setzten und das Bedrohliche am Tier hervorhoben. Mit der zu Weltruhm gelangten Serie Look ist 1955 die erste moderne Tierfilmreihe in England angelaufen. Ihr besonderes Signum war der hier in Szene gesetzte intime Blick auf die Natur. (Ein Film über das Leben der Spechte, den Sielmann damals für das BBC gedreht hatte, erwirkte eine höhere Einschaltquote als die Fußballweltmeisterschaft!). Mit den 60er Jahren kam die Zeit der technischen Innovation. Unter anderem auch in deren Folge wurde der Tierfilm zur Domäne der sachlichen, naturwissenschaftlichen Aufklärung. Eine übertriebene Vermenschlichung des Tiers war verpönt, der Nährboden für den in den 70er Jahren obligatorischen, kritischen Blick, der von ökologischen Apellen und Warnungen begleitet wurde, gelegt. (Horst Stern).

Heute setzt der BBC den Standard einer unüberbietbaren Nähe (in England gibt es zu PRIME TIME Live-Sendungen aus Fuchsbauten oder Vogelfelsen. „Heute Kaffeetrinken mit Familie Fuchs“ Die Technik ist immer ausgefeilter geworden, Kameraleute montieren Geräte an Haifischflossen, via Bildschirm sind uns Tiere so nahegerückt wie in natürlicher Beobachtung unmöglich. Die USA setzen auf die Parallelisierung der Stränge „wild“ und „gebändigt“: Zum einen gibt es immer mehr blutige Kampf und Jagdszenen, zum anderen wird, auch im Dokumentarfilm, zunehmend mit dressierten Tieren gearbeitet. In Deutschland hat sich der ökologische Appel der 70er Jahre Wort gleich durchgehalten. Die Kommentare über den ewigen Verlierer Naturschutz – so Mirsch distanziert- seien zur reflexhaften Phrase verkommen.

Mirschs Bericht schürte Interesse an persönlichen Erfahrungen, die die anwesenden Tierfilmer, während ihrer Filmarbeiten mit Tieren gemacht haben. Hat sie das Kameraresp. Autorenauge verändert?

Schaub schilderte eindrücklich, welch tiefe, fast hypnotische Wirkung von der ständigen Präsenz der bewegten Tierbilder bei der täglichen Arbeit am Schneidetisch ausgeübt worden sei. Noch bis in die nächtlichen Träume hinein seien Hirsche, luchse und anderes Getier vor seinem inneren Auge vorbeigezogen. Derartig tiefes Eindringen des Tiers in sein Wach- und Schlafbewußtsein, was ihm ein sehr wichtiges Erlebnis war, sei ihm vorgekommen wie ein mysteriöses Abrufen archaischer Emotionen und Mythen. Bei der Filmarbeit sei die Erfahrung des Zurückgeworfenseins auf Elementarität ausschlaggebend gewesen. Die schlichte Tatsache, daß Tiere keine Schauspieler sind, erfordere ein Höchstmaß an Ausdauer, Geduld und Gleichmut; man könne Tieren ihr zwischenzeitlich „infilmogenes“ Verholten nun mal nicht vorwerfen. Werner Ruzickas Frage, ob das „Elementare“ seiner Erfahrung auch regressive, animalische Schübe oder Demutsgesten vor eigenen, abgespaltenen Teilen miteinbeziehe, konnte Schaub nur teilweise bejahen. Die unglaubliche Nähe und Hingezogenheit zum Tier sei stets durchkreuzt worden von der Unmöglichkeit, ihnen wirklich nah zu sein. Ein unterstelltes oder gewünschtes Auge in Auge mit dem Tier habe sich nie bruchlos eingestellt.

Auch Herbart Kels Blick ist ein pointiert menschlicher geblieben:

Movens seiner Tierfilme sei sein Interesse am Kontrast von wildem Tier und erzwungener Vermenschlichung gewesen. Dies habe ihn zu der Idee geführt, das sich über das lebendige Tier im Zoo legende Raster des Immergleichen filmisch einzufangen. Dabei sei er natürlich nicht dem offensichtlichen und ermüdenden Repetetiven, sondern den marginalen Kontingenzen auf der Spur gewesen. Das größte Faszinosum sei ihm die Entdeckung der vorerst unmerklichen Differenzen innerhalb der ewigen Wiederkehr des Gleichen gewesen. In dieser Konsequenz sei es dann auch zu der einen, immergleichen Kameraeinstellung gekommen. Alles in allem wären auch ihm die Tiere immer lieber geworden, auch er habe oft genug von ihnen geträumt.

Für Ruzicka sprach aus Kels Tierfilmen insofern auch eine Kritik am Tierfilm, als diese sich dem so oft anzutreffenden narrativen Element erfolgreich entzogen haben: Seine Filme würden keine netten Geschichten erzählen („Zu Besuch bei Familie Nashorn“). Auch Schaub erklärte das Bedürfnis noch narrativen Elementen zu einer nicht zu unterschätzenden Versuchung. Gerade weil es sehr verlockend sei, das Tier als Spiegel des Menschen filmisch zu inszenieren, gerate man leicht in Gefahr eine Vermenschlichung des Tiers, die dann sehr schnell dümmlich wirke und eben nicht das „Andere“ aufzeige. Michael Mirsch gab zu Bedenken, daß eine umsichtige Art filmischer Präsentation des Tiers, die auf eine Nähe zum Menschen abhebt, sehrwohl seriös und legitim sein kann; seien doch beispielsweise in der Verhaltensforschung Analogieschlüsse durchaus erlaubt. Schon die schlichte Tatsache, daß wir 95% unseres Genoms mit dem Schimpansen gemein hoben, spreche für eine Aufhebung des rigorosen Tabus der Vermenschlichung des Tiers.

Werner Ruzickas Ermunterung zu spekulativer Betrachtung der derzeitigen Inflation von Tier- und Naturfilmen im Zusammenhang mit unserer offensichtlich nicht enden wollenden lust, Tiere zu betrachten, fand Anklang im Podium und Publikum. Sind Berichte über Tiere in ihrer geordneten Sozialität vielleicht einfach attraktiver als menschliche Unordnungen, Kriege, Katastrophen allerorten? Es gibt kaum ein – noch so seltenes- Tier, das nicht vom Fernsehen erfaßt worden ist. Handelt es sich hier um menschliche Schaulust, kindliche Begeisterung oder um ein philosophisches Staunen über oll die Variationen lebendiger Materie?

Antwortversuche:

Die Zoologie und Psychologie seien- so Michael Mirsch -die einzigen Wissenschaften, die bei den Zuschauern keine Schwellenangst auslösen. Hier fühle sich jeder zuhause. Die spezifische Attraktion des Tiefilms besteht Mirsch zufolge darin, daß er eine als angenehm erlebte „Angstlust“ hervorzukitzeln vermag, die sich darüber herstellt, daß Tierfilme mitunter bedrohliche Orte und Protogonisten ins heimelige Wohnzimmer bringen- und gleichzeitig freihalten.

Judith Klinger wollte die Differenz zwischen der Faszination am Zoo und Tierfilm bewahrt wissen. In den Zoo zu gehen bedeute etwas ganz anderes als sich an Tierfilmen zu erfreuen. Als Indiz dafür könne man die (tags zuvor) ergangenen Lacher im Kino nehmen, durch die sich einige Zuschauer als Nicht-Zoogänger geoutet hätten. Tierfilme seien größtenteils narrative Erzählungen, die ganz anders funktionieren als Zoobesuche. Der Tierfilm sei darüberhinaus auch Resultat wissenschaftlicher Systeme und Erklärungsmodelle, die auch seine Rezeption determinieren. Als Beispiel könne man die (unzähligen Filme über Wölfe hervorgebrachte) Modewelle der Verhaltensforschung nehmen, die soziale Systeme von Tieren erklären und ansichtig machen wolle, wobei sehr viel Menschliches aufs Tier projiziert werde, was einzig deshalb so reibungslos funktioniere, weil Tiere nicht antworten können. Zoos – so Klinger – determinieren die Wahrnehmung des Menschen anders und weniger umfassend. Nicht die Form der (beiderseits vorhandenen) Inszenierung sei das Wesentliche, sondern die Struktur. Ein Zoobesucher könne nicht so nah ans Tier herankriechen wie ein geschultes Team mit ihren Filmkameras.

Christoph Schaub waren nun doch die Gemeinsamkeiten zwischen Zoo und Tierfilm wichtig: Der Zoo biete sehrwohl eine mit einer Landkarte vergleichbare Dramaturgie. Auch er gebe einen verdichteten Blick aufs Tier vor, können sich doch Zootiere (wie im Film) den Blicken der Zuschauer in der Regel nicht entziehen. Mit Blick auf die Ökonomisierung von Emotion ständen sich Tierfilm und Zoo sehr nahe.

Das Abheben auf Gemeinsamkeiten fand Andrej Ujica wenig fruchtbar. Bei aller Gemeinsamkeit zwischen Tierfilm + Zoo sei ein wesentlicher Unterschied in der Beobachtung gegeben. Der Zoo sei und symbolisiere den Beweis des menschlichen Sieges über die Natur. Der Zoo sei gebändigte Natur. Der Tierfilm hingegen mache das Gegenteil: Er eröffne Zugänge zu wilder, freier und ungebändigter Natur, wenn auch als Suggestion. Deshalb führe der verengte Vergleich von Zoo+ Kino nicht weit. Es handele sich hier um einen historisch-kultureller Komplex. (Zoos sind· genauso wie Kinos – Verlängerungen des Jahrmarkts etc.) Die spezifische Faszination an der Beobachtung des Tiers ist Ujica zufolge mehr als infantile Neugier und Wissensdurst. Sie sei grundiert von einer alten Nostalgie, nämlich dem Topos eines paradiesischen Zustands, in dem Mensch und Tier noch ohne Kampf zusammenleben können, die sich auf dem Hintergrund, daß wir nur konfliktlos mit dem Tier zusammenleben können, wenn ein Käfig zwischengeschaltet ist, bis heute gehalten habe. Der Käfig markiere die Grenze, zwischen Stäben liege die Faszination. Ruzicka pflichtet bei: Die Extra-Reihe sei nicht umsonst zu ihrem Namen „Eden für Jeden“ gekommen.

Eine Stimme aus dem Publikum sah die Gründe der Faszination nicht so sehr in den Tieren, sondern im Menschen begründet. Tiere würden auf geradezu mediale Weise unsere Beobachtung, Wahrnehmung und Konzentration bündeln und fordern. Dies habe etwas Meditatives. Tiere, so ihr Vorschlag, fungieren als Supplement unserer Wahrnehmungsdefizite, Tierfilme somit als Seditativum.

Dietrich Leder sah dies durch die Filme von Kels bestätigt. Dessen Nashornfilm würde zur Konzentration und scharfer Entdeckungsgabe sowie zur Entwicklung eigens hervorgebrachter narrativer Strukturen aufrufen: „Warum geht das Tier jetzt aus dem Bild?“, „Warum sieht es jetzt in die Kamera?“ Er verführe zu permanenter Sinnproduktion, und dies sei vielleicht das Hauptmotiv für die Faszination des Guckens aufs Tier.

Ruzicka dankte dem Podium und Publikum für ihre zugewendete und rege Anteilnahme an dem Wagnis, das disparate und unerforschte Gebiet des Tierfilms zum Thema zu machen.

 Christoph Schaub, Karl Kels, Michael Miersch, Werner Ružička v.l. © Ekko von Schwichow
Christoph Schaub, Karl Kels, Michael Miersch, Werner Ružička v.l. © Ekko von Schwichow