Protokoll
Sarongio ist ein Dorf am Lago Maggiore. Soviel ist allen klar, und schwer, zuckrig, tränensaugend liegt es als Stimmung in der Luft. Man beginnt nun, sich mit Sentimentalitäten, welche sich ja bekanntlich beizeiten zu vorgerückter Stunde hochladen, zu beträufeln. Es entzündet sich über einem solchen Monismus von Melancholie eine Jagd einander ablösender Mißverständnisse und Zusammenhanglosigkeiten. Nicht daß es keinen durchgehenden Faden der Diskussion gegeben hätte – es gab unzählige Fädchen, aufflackernd und wieder verschwindend, sich ineinander verquirlend, windend, wiegend. Ein unentwirrbares Knäuel. Dürfte man Protokolle malen, ergäbe sich ein hübsches buntes Bild.
– Stichwort Gefilmte: Die Einwohner Sarangios, menschliche Kauzigkeiten am Rande der Weit, müssen, wie Cinzia Bullo berichtet, erst langsam an die Filmkamera gewöhnt werden.
– Stichwort Filmtechnik: Didi Danquart erhebt den Verdacht, daß die Beziehung von Filmbildern und ihrer musikalischen Untermalung keine atmosphärisch vorgegebene Sarangio-Entität, sondern dramaturgisches Kalkül seien. Der Verbindung von Bild und Musik unterstellt er den Zugriff einer Montagetechnik, welche die gezielte Zurüstung der Szenerie durch und im Hinblick auf einen touristischen Blick anstrebt. Für Didi Danquart als Insassen des deutschen Ruhrgebietskinos zeichnen sich die Bilder durch einen artifiziellen, partiell kitschigen Charakter aus.
– Stichwort Nähe-Ferne: Publikumsstimmen umkreisen Cinzia Bullos Perspektivierung des filmischen Material in diffuser, aber floH formulierender Weise. Aus der ambivalenten Position der Regisseurin, die in der Nähe Sarangios geboren wurde, aber nun· mehr seit Jahren in Berlin wohnt, erwachse jene Distanz zum Gegenstandsbereich, ohne die sie die Ruhe und Langsamkeit des Lebens in dem italienischen Bergdorf nicht derart souverän hätte ablichten können. Formatiert durch eine großstädtische Lebens-form, laufe sie nicht Gefahr, der Enklave Sarangio verklärend anheimzufallen, sondern bewahre einen gleichbleibenden, relativ unbeteiligten Blick dem Gegenstand gegenüber. Nur auf diese Weise sei das Kolorit Italiens noch unverzerrt präsentabel.
– Stichwort Gefilmte: Es folgt die Frage, ob die an familiäre Verhältnisse rührende Intimität der Dorfbewohner untereinander, die schwindende Privatsphäre sowie die allerorts offenstehenden Türen nicht auch eine erdrückende Wirkung auf die Regisseurin ausgeübt hätten. Die Replik folgt dem Schema klassischen· Aneinandervorbeirredens: drei der Dorfbewohner hätten sich der Kamera gar nicht erst stellen wollen, während die übrigen die bereits erwähnte Eingewöhnungsphase passieren mußten.
– Stichwort Panorama (innerlich): Das Publikum wird wieder von einer sentimentalen Welle erfaßt. Der Film reflektiere nicht nur eine, wenn auch bilderbuchschöne, Äußerlichkeit, sondern zapfe auch die Sphäre der Innerlichkeit, des Ungesagten, Unsichtbaren an.
– Stichwort Gefilmte: Hier wird den Bewohnern Sarangios im ganzen Ausmaß ihrer Einzigartigkeit, Persönlichkeit, Unverwechselbarkeit eine Reverenz erwiesen. Die Schwere der Existenz und zugleich die Zerstäubung der Existenz, die Simplizität der Lebensweise, die zugleich hochphilosophisch tingiert ist, werden mit leuchtenden Augen vermerkt. Ein Leben, schillernd zwischen bäuerlicher Einfachheit und schicksalsmelodierter Tragik….
Schließlich teilt X. noch seinen Eindruck von Sarangio als einer alles ernährenden Panmutter mit, um im gleichen Zuge auf die Dominanz der Frauenweit im Film zu verweisen. Eine tiefschürfende Diskussion über die Sarangio-Repräsentation Der Frau bzw. Des Mannes will aber nicht mehr in Gang kommen, weil alle sich lieber von Didi Danquart zum Bier einladen lassen.
Didi Danquart, Cinzia Bullo v.l. © Ekko von Schwichow