Extra

ARTE – Salon der Imagination?

Duisburger Filmwoche 17
11.11.1993

Podium: Lothar Baier (Autor), Thierry Garel (Leiter Abt. Dokumentarfilm bei La Sept), Philippe Grandrieux (Filmemacher), Eckart Stein (ZDF/Das Kleine Fernsehspiel), David Wittenberg (Filmemacher)
Moderation: Dietrich Leder, Didi Danquart
Protokoll: Judith Klinger

Protokoll

In seinen einleitenden Bemerkungen versammelte Lother Baier Beobachtungen verschiedendster Kategorien, gestützt auf eine Durchsicht des ARTE-Programms im Oktober, vorgetragen aus der Perspektive des Zuschauers und daher einstweilen frei vom Rekurs auf die spezifische, institutionelle Problematik des Zwei Länder-Kanals. Eine Kritik, die sich auf der Basis anhaltender und grundsätzlicher Sympathie verstanden wissen will:

(1) Der imaginäre Zuschauer: Der implizite ARTE-Rezipient, der homo artensis“ vordefiniert als Repräsentant einer weltoffenen Minorität, bleibt konturlos, in steter Transformation begriffen, je noch Sendungstyp: zeitgeschichtlich interessierter Erwachsener, hardcore-Kulturfan oder bisweilen schlicht infantil? Eine Kohärenz des Wunschbildes vom Zuschauer wird hier eingefordert – wohl als Signum einer ebenso kohärenten Programm-Identität.

(2) Information und Selbstreflexion: ARTE bietet Nachrichtensendungen als geraffte Kurzform des standardisierten Schemas alltäglicher Informationskonglomerate eine ‚Imitation mit unzureichenden Mitteln‘. Gefragt stattdessen: eine konsequente Lösung von bekannten Strategien, genaueres Hinsehen und Analyse des alltäglichen Nachrichtendurchlaufs. Ein Vorschlag schließlich läßt sich auf die gesamte Programmgestaltung ausdehnen: Der deutsch-französische Kanal könnte seine besondere Struktur mitreflektieren, die länderspezifischen Divergenzen in der Wahrnehmung bestimmter Themen als durchgängige Ebene in seine Sendungen integrieren.

(3) Kultur-Kanal: Um Kultur verteidigen zu können, bedarf es einer genauen Definition, bedarf es auch einer Begründung, zumal der einst auratische Begriff im Verblassen begriffen ist, von Sparmaßnahmen derzeit auf das Notwendigste reduziert wird. Es scheint, als habe ARTE das ‚ungefähre Codewort‘ Kultur zu wörtlich genommen – das zumindest legt die Typologie der Zuschauer nahe: Den Bayreuth-Pilgern und Traditionalisten steht der enthusiastische, vom Virus kritischer Reflexion noch nicht angekränkelte Laie gegenüber. Könnte Kultur nicht vielmehr ein Deckbegriff für das ‚Andere‘, das aus den übrigen Kanälen Abgedrängte sein, und müßte sich das Programm dazu nicht offener bekennen?

(4) Themenabend: Fallweise treten im ARTE-Programm hausbackene Feuilleton- Sendungen gegen die auf anderen Kanälen kochende Aktualität an, Beispiel: „Prag“ gegen die polnischen Wahlen. Eine andere Strukturierung des Titelabends könnte entweder dem Zuschauer eine bessere Orientierung vermitteln, konkretere Anhaltspunkte zum Auswählen liefern, oder selbst Raum schaffen für die Integration aktueller Bezugspunkte.

(5) Bild- und Wahrnehmungsdifferenzen: Französische und deutsche Dokumentarfilme geben sich durch die je eigene Bildsprache zu erkennen, den Umgang mit dem Bilddokument. Auch hier also der Vorschlag, perspektivische Divergenzen explizit zu reflektieren, den deutschen Blick, die französische Prägung einander gegenüberzustellen, sich wechselseitig erhellen und ergänzen zu lassen.

(6) Plädoyer: Die Nachahmung bekannter Erfolgsstrategien verschenkt eigene Chancen. Der Ausstieg aus dem Star-System in Talk-Shows und Diskussionsrunden könnte etwa vorformulierte Selbstdarstellungsphrasen durch die genauere Beobachtung des themenspezifisch qualifizierten Gesprächsteilnehmers ohne zugkräftigen Namen ersetzen. So wäre also zuletzt die Scheu vor einer Selbstdefinition als ‚Minoritätenprogramm‘ abzulegen.

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Die Diskussion schließt an die Frage nach Divergenzen der französischen und der deutschen Bildersprache an: Während David Wittenberg sich dafür verwendet, auch die Fremdheit des anderen Blicks zum Thema zu machen, betonen Eckart Stein und Thierry Gareil den Anspruch ARTEs, europäischer Diversität Raum zu schaffen, den Programmrahmen über die Ländergrenzen Frankreichs und Deutschlands auszudehnen. Freude am Unterschied und an der Vielfalt soll hier ihr Lebensrecht behaupten dürfen: „die multikulturelle Konfrontation findet statt“.

Philippe Grandrieux beklagt dagegen die strukturbedingte Verhinderung jeder Direktübertragungsmöglichkeit und knüpft damit ans Aktualitätenproblem an: Eine dem Fernsehmedium ganz eigene Darstellungsform, die Übermittlung von Bild und Ton ohne jeden Zeitverlust, wäre innovativ zu nutzen. Tatsächlich arbeite man weiterhin mit archaisch-journalistischen Formen. Muß Aktualität aber das Wunschziel um jeden Preis abgeben? Hier präzisiert Lother Baier seine Kritik am Prog-Titelabend: Beiträge sollten in erster Linie dem seit 1989 gewandelten ‚Rhythmus in der Geschichte‘ Rechnung tragen, im Umgang mit dem durch weltweite Nachrichtenpuzzles fragmentarisierten Bild ein kulturelles Erinnerungsvermögen gegen den Gedächtnisschwund der grell flackernden Ereignissucht sichern. Nicht Abbildung, sondern Interpretation des geschichtlich-kulturellen Zeichens wäre zu leisten: Gedächtnisarbeit in der Reflexion des eigenen Mediums. Philippe Grandrieux hält daneben seine Forderung noch einer Öffnung erstarrter Raster aufrecht: verschiedene Geschwindigkeiten, Koexistenz des Sofortbildes und der Langezeitbeobachtung, Raum für alles Unvorhergesehene … Eine spezifisch ‚televisuelle‘ Programmgestaltung, deren Definition einstweilen aber noch aussteht, wünschen sich alle Beteiligten.

Und nach ein weiterer Begriff- Kultur-, indem man die Hauptherausforderung des Senders erkennt, bleibt inhaltlich zu füllen. Ein mit diesem Signum versehenes Programm könnte Ieichterdings zur Abstellkammer ausgesonderter Sendungstypen, zum Auffangbecken geraten für oll das, was einem Massenpublikum anderswo nicht länger zugemutet wird. Andererseits, schlägt Eckart Stein vor, könnte ‚Kulturkanal‘ auch bedeuten, die institutionell verankerte Grenzüberschreitung in ebensolche Sendeformen zu übersetzen, dem Publikum eine andere Ansprache zu bieten. Schließlich: Ist nicht auch der Kulturbegriff länderspezifisch zu fassen? Hier wird nun allerdings die institutionelle Struktur von ARTE metaphorisch ausgereizt, verwischt sich die eingangs geforderte Trennschärfe, die wechselseitige Konturierung deutsch-französischer Blickrichtungen: ‚Grenzgänger‘ und ‚Schmuggler‘ als Programmgestalter?

Erneut wendet sich die Diskussion dem Verhältnis von inhaltlicher Qualität und medienspezifischer Form zu: Gelungene Beiträge, besonders im Bereich des Dokumentarfilms, gewinnen ihr Potential eben nicht aus dem Programmkontext, wo aber das Fernsehen zu sich selbst kommt, ist der Rückfall in Altvertrautes festzustellen. Einigkeit herrscht wohl darüber, daß die bange Frage nach den Einschaltquoten im Fall ARTE fehl am Platze ist. Eckart Stein verweist auf das allerorts beobachtbare Zerstörungspotential des Quotenvirus und Thierry Gareil schließt eine Differenzierung der bloßen Zuschauermasse von der Intensität des Zusehens an. Wiederum gibt der Dokumentarfilm das Beispiel für eine besondere Qualität des ARTE-Programms ab: Nicht absolute Zuschauerzahl, sondern der hohe Prozentsatz derjenigen, die sich dem ruhigen Bild, der longue duree genauer, dokumentarischer Beobachtung und Analyse anvertrauen, sollen den Maßstab abgeben. Ein Experiment mit dem Medium, so das Fazit, hinterläßt erkennbare Spuren, und das sei wohl das bestmögliche Ergebnis. Allerdings: der auch bei ARTE spürbare Druck der Quotenforderungen, das Diktat des numerisch meßbaren Erfolgs kann nicht bestritten werden. Aber vielleicht bietet hier gerade die institutionelle Konstruktion, die Kombination von deutschem Föderalismus und französischem Zentralismus Schutz: Zu hoffen bleibt, daß Koordinationsschwierigkeiten die Opferung des nichtkommerziellen Kulturkanals wenigstens aufhalten können.

 © Ekko von Schwichow
© Ekko von Schwichow