Protokoll
Da der Film keine weitere Kritik erfuhr, als allgemein anerkannt galt, daß seine spezifische Form (Chronologie, verknappte filmische Mittel, Interviews und Bartsch-Gespräche) es ermöglichte, Jürgen Bartsch jenseits des Bildes zu erkennen, daß die Geschichte von ihm zeichnete, will ich mich in diesem Protokoll nur auf einen Punkt der Diskussion konzentrieren, weil er etwas Kritisches verhandelte. Es wurde von einigen Zuschauern, die dem Film durchaus positiv gegenüberstanden, bemängelt, daß sich der Film in seinem zweiten Teil zu einem Film über den „Fall Bartsch“ auswachse. Prozeß und Prozeßwesen stünden jetzt im Vordergrund und nicht die Entwicklung des Jürgen Bartsch. Besonders die Äußerungen der Gutachter im Revisionsverfahren (Rasch und Brecher) wurden als überflüssig empfunden. Sie würden dem Zuschauer das deuten und erklären, was zuvor der Film bereits geleistet habe, nämlich die Suche nach einer Antwort für die Frage „Wie wurde er zum Mörder?“ Gleichzeitig griff ein Zuschauer das Verfahren selbst an, das die Gutachter bedienten. Sie würden so tun, als könnten sie, ihre Äußerungen einmal auf die Spitze getrieben, aus dem vorgelegten Datenmaterial konsequent diesen Fall „erklären“, als gäbe es so etwas, wie die lückenlose Deduktion einer Fallgeschichte aus den Bedingungen, in denen sie ablief.
Auf diese beiden, nicht miteinander zu verwischenden kritischen Einwände ging das Publikum wie der Filmemacher höchst unterschiedlich um. Rolf Schübel antwortete zum einen auf den ersten Einwand, daß das vielleicht für Intellektuelle gelte, daß sie aus dem ersten Teil des Filmes bereits begriffen, in welchem Zusammenhang Sozialisation und Fallgeschichte stünden, daß es aber durchaus auch andere Zuschauer gäbe, die einige Hilfen, argumentative Handreichungen bedürften, um sich diesem Grauen, es verstehen wollend, auszusetzen. Im Verlauf ergänzte Schübel diese stärker didaktisch ausgerichtete Begründung durch eine zweite, die ihm einige Zuschauer angeboten hatten, selbstverständlich sei es auch darum gegangen, das Leben des Jürgen Bartsch nicht um jene Dimension zu berauben, daß er zum „Fall“, zum „bedeutenden Verbrecher“ geworden war. Daß nämlich am „Fall des Jürgen Bartsch“, er selbst benutzt, wenn ich das als Protokollant einfügen darf, ja selbst diese juristische Terminologie, er ist sich dessen bewußt, so etwas wie die Entwicklung des juristischen Bewußtseins ablesen läßt, zeige sich beispielsweise am Beitrag des beisitzenden Richters im ersten Verfahren, der heute, zur Zeit der Dreharbeiten, seine tiefe Skepsis nicht nur gegenüber dem damaligen Verfahren sondern den Prinzipien der Rechtsprechung in diesem Bereich generell anklingen ließ. Andere Zuschauer betonten, daß es ein Irrtum sei anzunehmen, daß die biographische Rekonstruktion, die der Film anhand der Tonbandprotokolle des Gutachters Rasch vornimmt, von den Einsichten, Absichten und Erkenntnissen ebendieser gutachterliehen Tätigkeiten abzutrennen ist. (Ich behaupte sogar, mich als Protokollant erneut in diesen Text einmischend, daß die Vorstellung, man könne etwas über Jürgen Bartsch „authentisch“ erfahren, etwa aus den Gesprächen zwischen Rasch und Bartsch oder aus den Interviews mit Menschen, die ihn kannten, falsch ist. Beispielsweise kann ja das, was Michael Föster als das bezeichnete, was bei ihm den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen habe, daß nämlich Bartsch stets als „freundlich“ und „zuvorkommend“ (selbst in der Begründung des ersten Urteils) bezeichnet wurde, aus einem Schuldgefühl formuliert sein, daß die Zeugen vielleicht Angst haben, zu behaupten, Bartsch wäre unfreundlich, gewalttätig und „nicht zuvorkommend“ gewesen, weil sie damit die Gegenfrage, die mögliche Schuldzuweisung, („Und warum haben Sie nichts getan/gesagt?“) prozierten. Aber, ich gestehe es, darüber wurde noch nicht einmal ansatzweise gesprochen.)
Breiten Raum in der Diskussion nahm die Frage nach der Schuld ein. Man sprach über die Erziehung in den fünfziger und sechziger Jahren, erweiterte das bis in die Geschichte des 19. Jahrhunderts hinein, bezeichnete die „Saubermänner“ als „Bestien“, diegenauso viel Schuld wie Bartsch auf sich geladen hätten. Schübel relativierte viele dieser Aussagen von Zuschauern, wies im Zusammenhang der zuletzt zitierten Meinungsäußerung darauf hin, daß man höchstens sagen könne, daß die Umgebung von Bartsch mit-schuldig sei und mehr nicht. Zum Abschluß betonte eine Zuschauerin, daß das grundsätzliche Problem doch darin bestünde, daß „man nicht jeden lieben darf“. Bartsch‘ Verstoß gegen dieses Tabu habe ihn, ihrer Meinung nach, darein getrieben, daß er auf der Suche Liebe tötete, daß er jemand tötete, den er lieben wollte.
Zu den in der Diskussion erwähnten Fakten der Filmproduktion: 1978/79 sei Produzent Michael Lentz mit der Idee, einen Film über das Leben des Jürgen Bartsch zu drehen, zur ZDF-Redakteurin (Abteilung: Dokumentarspiel) gekommen. Sie habe Bücher zum Thema gelesen, die sie „dermaßen betroffen gemacht haben“, daß sie Interesse an diesem Stoff entwickelt habe. Rolf Schübel sei später hierfür interessiert worden.
Angela Haardt © Duisburger Filmwoche