Film

Mirabella / Sindelfingen
von Andreas Pichler
DE/DK/IT 2002 | 54 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 26
09.11.2002

Diskussion
Podium: Andreas Pichler
Moderation: Vrääth Öhner
Protokoll: Andrea Reiter

Synopse

Zweimal Heimat. Eine in Italien und in Deutschland. Viele Familien kamen aus dem sizilianischen Dorf Mirabella, um im Mercedeswerk Sindelfingen zu arbeiten. Werden auch ihre Kinder und Enkel noch das Heimatdorf kennen lernen? Oder wird es in Vergessenheit geraten?

Protokoll

Die Qualität von Mirabella / Sindelfingen liegt für Öhner in der filmisch-poetischen Umsetzung des Themas – im Sinne von „wer einmal weggeht , der kann zwar zurückkommen aber nie mehr ankommen…“, wie Öhner die verwobenen Pendelbewegungen des Filmes zu umschreiben sucht. Ja, so etwas in der Art schmunzelt Pichler. Dieses weder ankommen noch zurückkehren können habe ihn interessiert, auch bezogen auf die eigene Lebensgeschichte. In einem Spiel des Innen und Außen, sowohl auf mentaler als auch auf physischer Ebene wollte er das Migrationsthema bebildern. „Außen“ dargestellt durch Regen und Nächte in Deutschland – das Kühle, „Innen“ zeigt Sizilien, die Sonne, die Gemeinschaft – Wärme. Über die Wahl der Bilder, über die sich diskutieren ließe, verliert Öhner kurz den Begriff des Klischees, worauf der Regisseur jedoch nicht weiter eingeht.

Für Andreas Pichler ist die Pendelbewegung entscheidend. Er veranschaulicht die bildliche Umsetzung seines Konzepts: Mit einer Pendelbewegung Italien- Deutschland, angefangen in Mirabella, und diesen Ort für die Zuschauer spezifizierend, über die Busfahrten in die ein oder andere Richtung, die im Film immer weniger Raum einnehmen, sollten die beiden Orte verwoben werden, auch die Zeitschichten sollten sich immer mehr überlagern – bis sich ein „Blick dazwischen“ einstelle, der weder aus Deutschland noch aus Italien komme …um so eine These über den Lebensentwurf dieser Menschen zu entwickeln? fragt Öhner.

Pichler bestätigt, dass natürlich abgesehen von der Konstante der Migration, jede Familie eine ganz individuelle Geschichte hätte und er sich für bestimmte Varianten entscheiden musste. Es gab jene, die meinten nach zwei Jahren in D wieder nach I zurückzukehren, jene, denen eigentlich klar war, dass sie bleiben würden und die jüngste, oft in D geborene Generation, die nur noch mit der Sehnsucht nach ihrem romantisierten Sizilien lebten, aber nie dorthin ziehen würden.

Man muss wissen, in Baden-Württemberg ist es als cool, Italiener zu sein. Gelächter im Publikum.

Bei Öhner weckten manche Bilder Erinnerungen an Filmsequenzen italienischer Starregisseure, ein kleines name droping lässt er sich nicht nehmen. War das eine formale Idee des Regisseurs oder sei es der Kamera geschuldet? (Hierin verbirgt sich ein Lob an die Kamerafrau!) Man begegne in der Realität schon gesehenen Bildern, Andreas Pichler hat versucht, mit den Bildern zu spielen, die Referenzen habe er wohl intuitiv gesucht.

Die Suggestion einer Sehnsucht, die mittels der Lieder auf der Tonspur geschaffen würde, werden aus dem Publikum bekrittelt. Doch hat der Regisseur z.B. das Liebesabschiedslied bewusst verwendet, um das Empfinden der Menschen zu untermalen, aber auch, weil die Gesänge mit ihrer archaischen Kraft in Mirabella, dem achtzig Kilometer von Catania entfernten, sizilianischen Städtchen, eine wesentliche Bedeutung hätten. Er habe den Trauergesängen nachgespürt, die während der Osterprozessionen gesungen werden – wo sie herkommen sei nicht ganz nachvollziehbar. Es gehe um das Trauern der Mutter um ihren gestorbenen Sohn, wobei die Mutter im Zentrum stehe. Spannend sei dann die Verwebung, dass das archaische Sizilien (das Innere) in deutschen Wohnungen zu finden sei.

In der Szene des Bußfestes sieht Vrääth Öhner den dramatischen Höhepunkt von Mirabella / Sindelfingen, werde man doch selbst zum Migranten, wenn man diese Bilder sehe…

Pichler führt aus, dass es sich dabei um das sogenannte Josefsfest handle, bei dem Menschen, wenn sie für etwas gebetet hätten, was dann eingetreten sei, sozusagen als Pfand oder Sühne das Josefsfest mit einem reich gedeckten Altar ausrichten würden.

Mercedes

Den 70er-Jahre Fernsehspot hat Pichler in den Film aufgenommen, weil dieser den wirtschaftlichen Aufschwung markiert,. Der Spot soll den „Lockruf“ symbolisieren, dem eine weitere Generation von Italienern nach Deutschland gefolgt sei. Denn es gebe natürlich die Ironie, dass viele nicht nur wegen der schweren Lebensbedingungen in Italien, sondern auch wegen ihrer Wünsche nach Wohlstand die Emigration auf sich genommen hätten.

Andreas Pichler weiß zu berichten, dass es viele Bewohner aus den Dörfern der Umgebung von Mirabella im Laufe der letzten Jahrzehnte mit ökologischer Landwirtschaft zu einigem Wohlstand gebracht hätten, während die Leute aus Mirabella einen Ausweg aus der schlechten Wirtschaftslage meist durch Migration suchten. In den achtziger Jahren habe ein linker Bürgermeister versucht, die emigrierten Bewohner durch aufwendige Projekte zur Rückkehr zu bewegen, was jedoch – nicht zuletzt an politischen Querelen – gescheitert sei.

Die Geschlechterfrage

Sie wird im Film verschiedentlich thematisiert. Interessanterweise äußern die Männer eher den Wunsch, wieder in die Heimat zurückkehren zu wollen. Sie haben in Deutschland einen Verlust ihrer Rolle erlitten. Frauen ziehen es vor, in Deutschland zu bleiben, hier leben ihre Kinder, außerdem würden sie in der Heimat wieder in ein klassisches Rollenverhalten gedrängt, von dem sie sich in D hätten lösen können.

Wie schon in Tehran 1380 erkennt Vrääth Öhner auch in Mirabella / Sindelfingen die strukturelle Position einzelner Protagonisten, die das „Dazwischen“ markieren. In diesem Film seien es die Händler und Transportunternehmer, die zwischen Italien und Deutschland weit mehr als nur Waren (über-)liefern. Pichler bringt ihre Rolle auf den Punkt: Sie verkaufen ein Stück Heimat oder „liefern sie nach“. Durch ihr Pendeln zwischen den Kulturen können sie einen distanzierten Standpunkt einnehmen, der bisweilen etwas Zynisches habe.

Im Südtirol aufgewachsen, später zwischen Italien und Deutschland oszillierend sieht sich der Regisseur in dieser Rolle in gewisser Weise auch selbst.